Fokusanalyse

Frauen in der Chefetage

Russland gehört zu den 25 fortschrittlichsten Ländern der Welt, was Chancen und Teilhabe von Frauen am Wirtschaftsleben betrifft. Das befand der „Global Gender Gap Report“ des Weltwirtschaftsforums (WEF) in der Ausgabe 2021, als Russland zum letzten Mal untersucht wurde. Die jährliche Studie bewertet, zu welchem Grad die rund 150 betrachteten Länder die Gleichheits-„Lücke“ zwischen den Geschlechtern geschlossen haben. Russland habe sie in der Wirtschaft zu 76,7% geschlossen, befand das WEF. Damit landete es in diesem Teilbereich der Studie weltweit auf Rang 25, weit vor Deutschland, das in der aktuellen Ausgabe der Studie bei der wirtschaftlichen Teilhabe mit 66% auf Platz 88 liegt.

In der Breite gut vertreten
Besonders gut schneidet Russland beim Anteil der Frauen in leitenden Funktionen (senior positions) ab, den das WEF mit 44,7% angibt. Die Geschlechter-Lücke auf dieser Berufsebene sei zu 80% geschlossen. In Deutschland waren nur 29% dieser Stellen mit Frauen besetzt. Daten des größten russischen Stellenportals HeadHunter deuten darauf hin, dass die russische Telekombranche besonders offen für Frauen in Leitungspositionen ist. 2022 gingen dort 59% der Einladungen an Bewerber für Führungspositionen an Frauen. In den wichtigsten Bereichen der russischen Wirtschaft, Energie und Rohstoffe, waren es nur 25%.
Frauenmangel in Vorständen
Im Top-Management sind Frauen in Russland jedoch seltener anzutreffen. In einer Studie des britischen Wirtschaftsdatendiensts BoardEX von 2023 belegte Russland den vorletzten Platz unter 20 Ländern, was die Vertretung von Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten großer Unternehmen betrifft. In den gut vier Dutzend Konzernen des russischen Börsenindex RTS waren 13,9% dieser Posten mit Frauen besetzt. Niedriger war der Anteil nur in den Vereinigten Arabischen Emiraten (9,9%), an der Spitze stand Frankreich mit 43,7%. Deutschland landete mit 33,2% im Mittelfeld.
Näheren Einblick zu Deutschland gab das Beratungsunternehmen EY Anfang dieses Jahres. Aktuell bestehen die Aufsichtsräte und Vorstände der 40 DAX-Konzerne zu 38% bzw. 24% aus Frauen. Bei allen 160 börsennotierten Unternehmen liegt der Frauenanteil in den Vorständen bei 17%. Insgesamt sitzen dort 128 Managerinnen, mehr als doppelt so viele wie noch 2020. Nur sieben von ihnen sind Vorstandsvorsitzende, was eine Quote von 4,4% ergibt. Das entspricht in etwa auch dem Anteil der Frauen an der Spitze der deutschen Familienunternehmen. Laut einer Studie der AllBright-Stiftung waren im März 2023 weniger als 5% der CEOs der 1000 größten Unternehmen in Familienbesitz weiblich. Zum Vergleich: Für die USA ergab die BoardEX-Studie bei den 500 größten US-amerikanischen Unternehmen (S&P 500) einen weiblichen CEO-Anteil von 8,2%.

Männerdomäne CEO
Die Schlüsselfunktion des Konzern-CEO ist auch in Russland eine Männerdomäne. Laut der Moskauer Consultingfirma KFR (vormals Korn Ferry Russia) wurden im vergangenen Jahr drei der 105 größten russischen Unternehmen von einer Frau geleitet – immerhin dreimal so viele wie 2020, als nur eine Frau CEO war. Auch wenn KFR keine Namen nennt, dürfte es sich um Tatjana Bakaltschuk gehandelt haben. Die reichste Russin und Eigentümerin des größten russischen Internethändlers Wildberries zählt zusammen mit Zentralbankchefin Elwira Nabiullina wohl zu den bekanntesten Frauen in Russlands Wirtschaft.
Daten zu Frauen als CEO in Russland lieferte 2020 auch der Wirtschaftsprüfer Deloitte, der für seine Studie 224.000 Unternehmen im Land berücksichtigte. Sie ergab, dass insgesamt jedes fünfte russische Unternehmen von einer Frau geleitet wird. Besonders häufig war das in den Bereichen Bildung (42%) und Gesundheit (39%) der Fall. In den Schlüsselbereichen Energie und Rohstoffe war das leitende Personal nur zu 25% weiblich.

Den Analysten von Deloitte fiel auf, dass der Anteil weiblicher CEOs in Russland ab einem Jahresumsatz von 800 Mio. Rubel (damals über 10 Mio. Euro) auf 12% sank. Bei den 200 größten russischen Unternehmen betrug er noch 6,5%, was auf 13 Frauen in dieser Position schließen lässt. „Je höher der Umsatz, desto seltener sind Frauen als CEO“, fasste Deloitte zusammen.
Im internationalen Vergleich sind das dennoch gute Werte, wie die jüngste Ausgabe der weltweiten Deloitte-Studie zu weiblichen Führungskräften von 2022 zeigt. Ihr zufolge betrug der CEO-Anteil in den untersuchten 10.500 Unternehmen in 51 Ländern im Schnitt 5%. Im Vorreiter-Land Frankreich lag er bei 9,7%, zu den CEOs in Deutschland machte Deloitte keine Angaben.

Achillesferse Politik
Dass Russland im Gleichstellungs-Ranking des Weltwirtschaftsforums nur an Platz 81 landete – weit hinter Deutschland, das aktuell auf Rang 6 steht – liegt an der geringen Beteiligung von Frauen an Politik und Macht. Im Teilbereich „politische Teilhabe“ des Global Gender Gap Reports 2021 belegte Russland Platz 133, während Platz 5 für Deutschland in diesem Bereich das beste Teilergebnis der Bundesrepublik darstellte.

Eine Studie der Moskauer Verwaltungs-Universität RANEPA aus dem vergangenen Jahr stimmt dem WEF in seiner Bewertung zu. So waren im Jahr 2019 weniger als ein Drittel (30%) der höheren Beamtenstellen mit Frauen besetzt, wie Daten der Statistikbehörde Rosstat zeigen. Im Regierungsapparat und der Kremlverwaltung lag der Anteil bei 14%, so eine Zählung der Wirtschaftszeitung Kommersant. Zugleich waren nach Angaben des Statistikamts Rosstat von den insgesamt 763.700 zivilen Staatsdienern 559.300 weiblich, also fast drei Viertel. 63% der 1,5 Mio. Mitglieder der Regierungspartei Einiges Russland waren Frauen.

Selten im Parlament, noch seltener in Regierung
Unter den Volksvertretern im Parlament sind Russinnen noch seltener als unter den Top-Beamten. Seit Ende der 2000er-Jahre bewegt sich der Anteil der Frauen an den Duma-Mitgliedern um 15%, aktuell beträgt er 16,7%. Zum Vergleich: Im Bundestag liegt ihr Anteil seit Beginn des Jahrtausends bei rund einem Drittel, zuletzt rund 35%. Die höchsten Werte in Europa weisen Schweden und Finnland mit 46% auf, in den USA sind es 29%, was unter dem Schnitt der OECD-Länder von 34% liegt.
Besonders sichtbar wird der Abstand zu Deutschland bei den Regierungsposten. Von den 21 russischen Ministerien wird nur eines von einer Frau, Kulturministerin Olga Ljubimowa, geleitet. In der Bundesregierung beträgt der Frauenanteil 41%, in den Regierungen der Bundesländer liegt er im Schnitt bei 44%, der Berliner Senat setzt sich fast zu zwei Dritteln aus Frauen zusammen.

Mehr Frauen-Power in Sowjetunion?
In den 1980er-Jahren waren in der damaligen Sowjetunion mehr Frauen in der Politik vertreten als in Westdeutschland. Im Bundestag der Bonner Republik saßen 1984 nur 8% Frauen, im Obersten Sowjet der UdSSR waren es in jenem Jahr 33%. Bereits in den Geburtsjahren der Sowjetunion spielten Frauen eine prominentere Rolle als anderswo. So erhob Lenin nach der Revolution 1917 mit Alexandra Kollontai erstmals in der jüngeren Weltgeschichte eine Frau in das Amt eines Ministers. Die kurzzeitige Volkskommissarin für Soziale Fürsorge wurde zehn Jahre später auch die erste Botschafterin der neueren Geschichte und vertrat die Sowjetunion bis 1945 in verschiedenen Ländern.

Dennoch ist es ein Vorurteil, dass Frauen in der Sowjetunion viel Macht hatten, befand die Soziologin der Russischen Akademie der Wissenschaften Elena Kotschkina in einer 1999 veröffentlichten Arbeit. So sei historisch nur jeder zweihundertste sowjetische Minister eine Frau gewesen (0,5%). Im mächtigen Zentralkomitee der Kommunistischen Partei habe der Frauenanteil im Schnitt bei 3% gelegen, und die eigentliche Machtzentrale der Sowjetunion, das Politbüro des Zentralkomitees, war über Jahrzehnte ausschließlich männlich besetzt. In der gesamten Sowjetzeit haben es nur vier Frauen in den erlauchten Kreis geschafft, zwei davon in den letzten Jahren der Perestroika.

Russische Regionen: Von 57 bis 0 Prozent
Regional gibt es im heutigen Vielvölkerstaat Russland große Unterschiede bei der politischen Partizipation der Frauen. So reicht die Spannbreite des Frauenanteils in den regionalen Parlamenten aktuell von 57% im Autonomen Kreis der Tschuktschen im Nordosten des Riesenlandes bis 0% in der Republik Tschetschenien im Südwesten. Russlandweit liegt der Schnitt bei 19%.
Eine Erklärung für den hohen Anteil im russischen Fernen Osten sieht der Politologe Alexander Kynew darin, dass die lokalen Wahlen dort von sozialen Themen dominiert werden, zu denen sich überwiegend Lehrerinnen, Ärztinnen oder Vertreterinnen anderer „weiblicher“ Berufe aufstellen. Professionelle Politikerinnen oder Unternehmerinnen würden es auch in diesen Landesteilen nicht in die Parlamente schaffen, so Kynew. In industriell geprägten Regionen oder im Nordkaukasus sei die Lage noch schlechter.

Quellen: WEF 1, 2, Report 2021, Report 2023, Deloitte, Altrata, OECD (alle EN), RBC, Rosstat, RG, Forbes Russia, KFR, Kommersant 1, 2, 3, 4, 5, RANEPA, E. Kotschkina, G. Beljajewa, RIA, TASS, Tscherta, MK (alle RU), Stat. Bundesamt, Spiegel, Tagesschau, ZDF, AllBright-Stiftung, VDU, Bundesministerium FSFJ, Bundestag