Fokusanalyse

Lage der Landwirtschaft in Russland

Das vergangene Jahrzehnt war für die russische Landwirtschaft vom Verbot für Lebensmittelimporte aus der EU, umfassenderen Hilfsprogrammen des Staates sowie Produktions- und Exportrekorden gekennzeichnet. Die Bruttowertschöpfung des Agrarsektors Russlands wuchs zwischen 2013 und 2023 kumuliert um 24,1%, das heißt um das 2,1-Fache schneller als volkswirtschaftsweit.

Somit vergrößerte sich der Beitrag der Agrarproduktion zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Zeitraum von 3,4% auf 3,7%. In der Landwirtschaft werden aber immer weniger Menschen beschäftigt: Handelte es sich 2013 um 6,5 Mio. Arbeitskräfte, so waren es 2022 um zwei Millionen weniger. Dies lässt auf deutliche Produktivitätsgewinne durch Erneuerung der Landtechnik-Flotte und den Einsatz moderner Erntetechnologien schließen.

Die Agrarwirtschaft entwickelte sich auch in den vergangenen zwei Jahren dynamischer als die Gesamtwirtschaft Russlands. Während das BIP insgesamt um 2,4% größer wurde, verzeichnete die Landwirtschaft ein 7,1% Wachstum. Parallel dazu änderte sich die Struktur des russischen Agrarsektors. Hatten Großbetriebe 2013 rund die Hälfte aller Landwirtschaftsgüter hergestellt, so lag ihr Anteil zehn Jahre später bei über 60%. Auf Bauernhöfe entfallen inzwischen 16% der Agrarproduktion, während der Beitrag der Haushalte auf 24% geschrumpft ist. Insgesamt sind derzeit ca. 16.000 Agrarbetriebe aktiv.
2022 hatte der russische Agrarsektor um 7,0% expandiert, so stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr. 2023 wuchs er aber nur geringfügig, um 0,1%. Die faktische Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion im vergangenen Jahr führen Experten wie beispielsweise Michail Frolow vom Rechnungsprüfer Technologies of Trust (TeDo, ehemals PwC) einerseits auf einen Basiseffekt zurück. Zum anderen wirkten die westlichen Sanktionen verzögert, die zu höheren Betriebskosten und engeren Margen führten. Obwohl die Realeinkommen nach einem Rückgang 2022 im Jahr 2023 gestiegen seien, sei es vielen Unternehmen vorerst nicht gelungen, die Preise vollständig an die steigenden Kosten anzupassen oder die Produktionsmengen zu erhöhen, kommentiert Frolow.

Vize-Landwirtschaftsministerin Elena Fastowa erklärte im April, dass die durchschnittliche Rendite der Agrarbetriebe im Jahr 2023 bei Berücksichtigung der Subventionen auf 19% gesunken ist, nach 20% in 2022 sowie 25% in 2021. Die Umsätze sind aber im Schnitt um 10% gestiegen, sodass der Gewinn des Agrarsektors 2023 etwa auf dem Niveau des Vorjahres geblieben ist, so Fastowa.

In der Tierzucht wurde 2023 mit 17% eine höhere Rendite erzielt als in den vorangehenden Jahren (2021: 13%, 2022: 12%). Das sei dank tieferen Preisen für Futtermittel möglich gewesen, erklärte die Beamtin. Auch die Milchproduktion habe sich in den zurückliegenden Jahren gerechnet: Die Rendite habe sich bei rund 20% bewegt, was Investitionen in immer neue Milchbetriebe hervorgerufen habe.

Die Durchschnittsrendite im Pflanzenanbau sei im vergangenen Jahr auf 26% gefallen, nach 30% 2022. Trotzdem bleibe die Produktion von Ölsaaten, Soja oder Raps margenstark, informierte Fastowa. Allerdings sind Getreidebauer aktuell mit niedrigeren Renditen konfrontiert, 17% im vergangenen Jahr nach 21% im Jahr 2022 sowie 26% in 2021. Das liege an den großen Ernten, die die Preise drückten.

2022 hatten russische Landwirte eine Rekordmenge an Getreide geerntet, 157,6 Mio. Tonnen. Das waren um 30% mehr als 2021 (121,4 Mio. Tonnen). Im vergangenen Jahr fuhr Russland die zweitgrößte Getreideernte ein, 144,9 Mio. Tonnen, was um 9% weniger als 2022, aber um 19% mehr als 2021 ist.
Die russische Weizenernte lag im vergangenen Jahr bei 92,8 Mio. Tonnen, um 11% weniger als 2022 (102,4 Mio. Tonnen) sowie um 22% höher als 2021 (76,1 Mio. Tonnen). 2023 stellte Russland somit 12% der weltweiten Weizenproduktion, nach 13% im Rekordjahr 2022.

Bei der Produktion von Mais brach Russland 2023 seinen Rekord von 2022. Die Erntemenge belief sich auf 16,6 Mio. Tonnen, um 800.000 Tonnen mehr als 2022. Das gleiche gilt für Sonnenblumenkerne, die 2023 in Höhe von 17,3 Mio. Tonnen geerntet wurden, um 900.000 Tonnen mehr als der 2022 erzielte bisherige Höchstwert. Die Gesamtproduktion von Ölsaaten stieg 2023 somit auf 29,9 Mio. Tonnen, nach 29,1 Mio. Tonnen im Vorjahr.

Die Expertenprognosen für die diesjährige Ernte sind weniger optimistisch. Anfang Mai erwartete das Institut für Agrarmarktkonjunktur (IKAR) in Moskau für das Jahr 2024 eine Getreideernte von 142 Mio. Tonnen sowie 91 Mio. Tonnen Weizenernte. Die Rechercheure des auf Getreidetransporte auf der Schiene spezialisierten Logistikunternehmens Rusagrotrans gingen von einer Weizenernte von 90 Mio. Tonnen aus. Dabei wiesen sie auf die Dürre hin, die in weiten Teilen Südrusslands fast über den ganzen April herrschte.

Nachdem es in der ersten Maihälfte im Süden sowie in einigen Gebieten Zentralrusslands und an der Wolga zu einer Kältewelle und zeitweise sogar zu Minustemperaturen kam, haben Analysten ihre Prognosen nach unten revidiert. So hält Rusagrotrans inzwischen eine Weizenernte von 87–88 Mio. Tonnen für wahrscheinlicher. Auch wenn in erster Linie die Obst- und Beerenkulturen bedroht seien, dürften die Fröste auch Getreidekulturen betroffen haben, gibt IKAR-Geschäftsführer Dmitrij Rylko zu bedenken. „Die Verluste können durch eine erneute Aussaat wieder ausgeglichen werden, aber nur teilweise“, urteilt der Experte. Unter diesen Vorzeichen schließt er eine Verschlechterung seiner aktuellen Ernteprognose nicht aus.
Mit Stand vom 6. Mai waren in Russland etwa 16,9 Mio. Hektar mit Frühjahrskulturen besät, schätzt das Analyseteam des russischen Saatgutherstellers RUSEED. Das entspreche 30% des Aussaatplans. Mais, Soja und Sonnenblumen könnten je nach dem Entwicklungsstadium der Pflanzen und der Dauer des Kälteeinbruchs Fröste überstehen, so RUSEED. Mais zum Beispiel werde in der Regel von Temperaturen von minus 1 bis 2°C nicht ernsthaft beeinträchtigt, vor allem wenn er sich in der frühen Wachstumsphase befinde. Sojabohnen könnten milde Minusgrade ohne größere Probleme verkraften. Aber Fröste unter minus 2°C, insbesondere wenn sie länger anhielten, könnten die Ernte schädigen, vor allem bei Pflanzen in der frühen Wachstumsphase. Sonnenblumen seien gegenüber Frost empfindlich. Sämlinge könnten in der Regel Temperaturen von bis zu minus 3°C überstehen, aber wenn die ersten echten Blätter erschienen, würden sie zum Problem. Die Wachstumsstelle an den Sämlingen sei gefährdet. Wenn sie beschädigt werde, könne es zu übermäßiger Verzweigung und Ertragsminderung kommen. Eine abschließende Lagebeurteilung werde eine Woche nach Frostende möglich sein, lautet das Fazit der RUSEED-Analysten.

Wenn das schlechte Wetter im laufenden landwirtschaftlichen Jahr, das im Juni endet, geringere Ernteerträge als erwartet zur Folge hat, könnten Russlands Exporte von Agrargütern sowie die Erträge daraus 2024 im Vergleich zum Vorjahr sinken. Im ersten Quartal plante das russische Landwirtschaftsministerium, 70 Mio. Tonnen Getreide im Jahr 2024 zu exportieren.

2023 waren 66 Mio. Tonnen Getreide ausgeführt worden, davon 51 Mio. Tonnen Weizen. Russland blieb somit weltweit größter Weizenexporteur. Es belieferte Länder wie Ägypten, die Türkei, Saudi-Arabien, aber auch Indien und China mit Weizen. Insgesamt verdiente Russland 2023 mit seinen Agrarausfuhren, die neben Weizen vor allem aus Mais und Gerste bestanden, knapp 44 Milliarden US-Dollar.
Dabei handelt es sich um ein Allzeithoch. Gegenüber 2022 stieg der Wert von Russlands Agrarexporten um 5% sowie gegenüber 2021 um 21%. Am Freitag erklärte der soeben für eine weitere Amtszeit bestätigte Ministerpräsident Michail Mischustin das Ziel, 2030 um 50% mehr Agrarprodukte zu exportieren.

Dies steht in scharfem Kontrast zur Situation zwischen den 1960er und den 1990er Jahren, als die Sowjetunion und später Russland in großem Stil nordamerikanisches Getreide importieren musste. Mitte der 1980er Jahre hatte sich die Versorgungslage sichtbar verschlechtert, es kam zu empfindlichen Engpässen. Zu jener Zeit wurden mehrere Spendenaktionen gestartet und Menschen aus Deutschland und anderen westlichen Ländern schickten Lebensmittelpakete nach Russland.
Quellen: Rosstat 1, 2, Agroinvestor 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, Interfax 1, 2, Tass (alle RU)