Fokusanalyse

Russische Düngemittelindustrie

Nach Angaben von Fertilizers Europe, dem Verband der europäischen Düngemittelindustrie mit Sitz in Brüssel, importierte die EU im vergangenen Jahr um 60% mehr Düngemittel aus Russland als 2020. Die Tatsache, dass Russland seine Rolle als Schlüssellieferant gestärkt hat, bezeichnet er als eine „neue Herausforderung“. Die EU müsse in punkto Düngemittelproduktion und -verwendung autonomer werden, um in Zukunft besser gegen Preissprünge wie 2022 geschützt zu sein. Da aber Erdgas zwischen 70% und 90% der Produktionskosten von Dünger ausmacht und die EU es größtenteils importieren muss, dürfte es sehr schwer sein, dieses Ziel zu erreichen.

Vor diesem Hintergrund deutet etwa Benjamin Lakatos, Geschäftsführer des Schweizer Energiehändlers MET Group, auf die Zweckmäßigkeit von protektionistischen Maßnahmen im Düngemittelbereich in Europa an. „Die politischen Entscheidungsträger in Europa werden darüber nachdenken müssen, ob sie auf dem Düngemittelmarkt eine ähnliche Marktstruktur wie auf dem Gasmarkt schaffen wollen, wo die Region von externen Quellen abhängig ist, oder ob sie versuchen wollen, Regularien zum Blockieren alternativer Importe oder Mindestanforderungen an die lokale Produktion einzuführen, um die europäische Düngemittelindustrie am Leben zu erhalten“, so Lakatos.

„Wir werden derzeit von Düngemitteln aus Russland überschwemmt, die deutlich billiger sind als unsere Düngemittel“, so Petr Cingr, Geschäftsführer der SKW Stickstoffwerke Piesteritz, die Deutschlands bedeutendsten Produktionsort von Stickstoffdüngemittel nahe Lutherstadt Wittenberg betreibt, gegenüber der britischen Wirtschaftszeitung Financial Times. Der Grund sei, dass russische Hersteller im Vergleich zu europäischen Produzenten „Peanuts für Erdgas zahlen“. Wenn die Politik nicht handle, werde die europäische Produktionskapazität verschwinden.
Derweil haben sich die globalen Preise für Düngemittel seit Jahresbeginn 2024 ungefähr auf dem Niveau des vergangenen Jahres bewegt. Das belegen die Daten, die die Weltbank in ihrem monatlich aktualisierten „Pink Sheet“ sammelt. Die Produktionszahlen der vergangenen Monate deuten darauf hin, dass sich die aktuelle Prognose des RAPU-Chefs Andrej Gurjew wahrscheinlich bewahrheiten wird, dass sowohl die Produktion als auch der Export von russischen Düngemitteln in diesem Jahr um ca. 10% wachsen. Ihre gesamtwirtschaftliche Bedeutung für Russland dürfte also weiter steigen.

Rückblick und aktuelle Lage
Seit der Weltfinanzkrise und der Wirtschaftskrise im Inland 2008/09 hat die Düngemittelbranche in Russland einen großen Wachstumsspurt hingelegt. Wurden vor 15 Jahren 32,9 Mio. Tonnen Dünger hergestellt, so waren es 2023 dann 59,3 Mio. Tonnen. Dies entspricht einem Anstieg von 80%, während die landwirtschaftliche Produktion insgesamt lediglich um 43% wuchs.

Die hohen Produktionswerte der russischen Düngemittelbranche in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ließen sich dank erheblicher Ausbau- und Modernisierungsinvestitionen von Unternehmen wie PhosAgro, EuroChem, Uralkali, Akron und Uralchem erzielen. Nach RAPU-Angaben beliefen sie sich zwischen 2012 und 2022 insgesamt auf 1,8 Bio. Rubel (aktuell 18 Mrd. Euro). Im Ergebnis stellte Russland laut dem Branchenverband ein Drittel des im vergangenen Jahrzehnt verzeichneten weltweiten Produktionszuwachses in der Düngemittelindustrie. Der Jahresumsatz der Branche stieg auf knapp 20 Mrd. Euro.
Ausgedrückt als Menge Reinnährstoff wurden in Russland im zurückliegenden Jahr 26 Mio. Tonnen Dünger hergestellt, um 60% als 2008. Der 2023 erreichte Wert entspricht in etwa demjenigen, den die ganze Sowjetunion in den 1980er Jahren verzeichnet hatte. Damals reichte ihr das nicht, um ihre 1,9-mal größere Bevölkerung als die heutige russische mit genug im Inland hergestelltem Weizen zu versorgen.

In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten verzeichnete die Produktion von Stickstoff-Dünger den größten Zuwachs. Sie stieg von 7 auf 12,5 Mio. Tonnen Reinnährstoff. Der Anteil von Stickstoff-Dünger an der Gesamtdüngerproduktion Russlands vergrößerte sich damit von 43% im Jahr 2008 auf 48% 15 Jahre später. Der Anteil von Kali‑Dünger, von dem im vergangenen Jahr 9,1 Mio. Tonnen Reinnährstoff produziert wurden, sank hingegen von 41% auf 35%. Phosphat-Dünger (4,4 Mio. Tonnen Reinnährstoff-Produktion) machte im vergangenen Jahr 17% der Düngerproduktion aus. Das war ein Prozentpunkt mehr als 2008.
Der vermehrte Düngereinsatz führte in Russland im vergangenen Jahrzehnt zu deutlich intensiverer Agrarwirtschaft. Hatten die landwirtschaftlichen Betriebe vor zehn Jahren Düngemittel in einer Gesamthöhe von 2,4 Mio. Tonnen Reinnährstoff verbraucht, so waren es 2023 bereits 6,1 Mio. Tonnen, also mehr als das 2,5-fache der damaligen Menge. Nach Schätzungen des RAPU-Präsidenten Andrej Gurjew dürften die Landwirte gegen Ende des laufenden Jahrzehntes sogar über 11 Mio. Tonnen Dünger jährlich einsetzen.
Düngemittel gehörten in den vergangenen Jahren zu den wichtigsten Exportgütern Russlands. Wertmäßig stieg ihr Anteil an den russischen Gesamtexporten von 2% im Jahr 2019 auf 3,5% im vergangenen Jahr. 2023 verkaufte Russland 34 Mio. Tonnen Düngemittel im Wert von 14 Mrd. Euro auf dem Weltmarkt. Laut dem Russischen Verband der Düngemittelhersteller RAPU flossen drei Viertel dieses Volumens in die schnell wachsenden Länder des Globalen Südens, die Russland als „freundlich“ einstuft. Russland ist seit 2016 der weltweit führende Exporteur von Düngemitteln, obwohl China gegenwärtig 2,5-mal mehr Düngemittel herstellt, von denen der größte Teil allerdings im Land bleibt.

Exportschlager Düngemittel
Die Düngemittelindustrie Russland ist traditionell stark exportorientiert. Bereits vor Jahrzehnten hatte das Land erhebliche Mengen Dünger auf den Weltmarkt geliefert, so zum Beispiel 22,7 Mio. Tonnen im Jahr 2003. Zehn Jahre später waren es 27,3 Mio. Tonnen und im vergangenen Jahr 33,9 Mio. Tonnen. Der bisherige höchste Exportmenge, 37,5 Mio. Tonnen, wurde 2021 erreicht. Laut Experten könnte der Rekord in diesem Jahr gebrochen werden.

Wertmäßig wurde der bisherige Exportrekord im Krisen- und Sanktionsjahr 2022 aufgestellt. Anomal hohe Weltmarktpreise hatten es russischen Lieferanten ermöglicht, 19,3 Mrd. US‑Dollar (18,2 Mrd. Euro) mit Düngerexporten zu verdienen, um 54% mehr als 2021 trotz des damaligen Mengenrekordes. 2023 ging der Wert der Ausfuhren um knapp ein Viertel auf ca. 14 Mrd. Euro zurück, obwohl die Menge um 2% auf 33,9 Mio. Tonnen zulegte.
Keine Sanktionen gegen Düngemittel
Düngemittel gehören zu den Gütern, deren Import aus Russland westliche Länder aus humanitären Gründen ausdrücklich nicht sanktioniert haben. Trotzdem ist der Anteil der nichtwestlichen Käufe russischen Düngers von ca. 60% im Vorsanktionsjahr 2021 auf ca. 75% im Jahr 2023 gestiegen.

Im vergangenen Jahr lieferte Russland laut der UN-Datenbank Comtrade 9,4 Mio. Tonnen, oder 28% der Gesamtmenge sowie um 1,3 Mio. Tonnen mehr als 2022 an seinen wichtigsten Düngerkunden Brasilien, wofür das südamerikanische Land 3,7 Mrd. Euro zahlte. Indien steigerte seine Düngerimporte aus Russland 2022 von 3,6 Mio. Tonnen auf 4,8 Mio. Tonnen im Jahr 2023, die 2 Mrd. Euro wert waren. Die USA versorgten sich 2023 mit 4,3 Mio. Tonnen russischen Düngemitteln im Wert von 1,5 Mrd. Euro. Das waren um 1,8 Mio. Tonnen mehr als 2022. Insgesamt entfielen 55% der russischen Exportmenge auf die drei wichtigsten Abnehmer Brasilien, Indien und die USA.

Es sei unwahrscheinlich, dass die EU Sanktionen gegen russische Pflanzennährstoffe verhängen werde, sagte Chris Lawson, Leiter des Bereichs Düngemittel bei der Londoner Beratungsfirma CRU der Financial Times. „Die Erinnerung an die hohen Düngemittelpreise im Jahr 2022 und die Bedrohung der Ernährungssicherheit sind den politischen Entscheidungsträgern noch gut im Gedächtnis.“

Quellen: Fertilizers Europe (EN), Forbes (EN), FT (EN), World Bank (EN), Vedomosti (RU), RAPU (RU), Rosstat (RU), Comtrade (EN)