Fokusanalyse

Makroökonomische Prognosen für 2024 in Russland

Zur Jahreswende 2023/24 hat das russische Wirtschaftsportal RBC fünf Künstliche-Intelligenz-Systeme die wichtigsten makroökonomischen Indikatoren für das neue Jahr 2024 wie Bruttoinlandsprodukt (BIP), Inflation, Leitzins, Rubelkurs und Ölpreis veröffentlicht. Die RBC‑Redaktion hat die von der Sberbank und dem Mobilfunkanbieter MTS betriebenen neuronalen Netze GigaChat und MTS AI, das Daten-Analyse-System iFORA der Wirtschaftshochschule Moskau, die quelloffene KI‑Anwendung ETNA des Finanzdienstleisters Tinkoff und die Wettervorhersage-Software Meteum des IT-Riesen Yandex befragt. Nachfolgend fassen wir die von den KI‑Systemen gelieferten Ergebnisse zusammen.

Bruttoinlandsprodukt
Laut iFORA wird das Wirtschaftswachstum in Russland im beginnenden Jahr zwischen 0,7% und 1,8% betragen. Dies stimmt mit den Prognosen der führenden Wirtschaftsforscher überein, die die Russische Zentralbank Anfang Dezember befragt hatte. Sie gingen für dieses Jahr von einer Vergrößerung des russischen BIP um 0,5%–2,3% aus.

Die Meinungen darüber, wie stark Russlands Wirtschaft im vergangenen Jahr gewachsen ist, gehen etwas auseinander. Die Weltbank geht in ihrem aktuellen Monatsbericht Januar 2024 davon aus, dass das russische BIP 2023 um 2,6% zugelegt haben soll, während der Internationale Währungs-fonds (IWF) sie im Oktober auf 2,2% geschätzt hatte. Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow hatte im November ein um 3% größeres BIP vorausgesagt, Präsident Putin im Dezember sogar ein 3,5%‑Wachstum in Aussicht gestellt.

Einheimische und internationale Ökonomen stimmen überein, dass Russland die wirtschaftlichen Verluste von 2022 inzwischen mehr als wettgemacht hat. Selbst wenn die konservative IWF‑Einschätzung zutreffend ist, ist die russische Wirtschaft seit Ende 2021 kumuliert um 0,1% sowie seit Ende 2019 um 2,8% gewachsen. Konsens besteht unter Experten auch darüber, dass die positive Dynamik der Wirtschaftsentwicklung seit der Jahreswende 2022/23 nicht nur auf einen Basiseffekt aus dem Krisenjahr 2022 zurückzuführen ist, sondern sich auch auf eine robuste Industrieproduktion stützt. Diese hatte im Januar-November 2023 zum Vorjahr um 3,6% zugenommen.

Am stärksten wachsen gegenwärtig diejenigen Wirtschaftsbereiche, die sich überwiegend auf den Inlandsmarkt orientieren und vielfach von staatlichen Förderprogrammen und öffentlichen Großaufträgen profitieren, die sie vor negativen Auswirkungen der Sanktionen schützen. Es handelt sich vor allem um das verarbeitende Gewerbe und die Bauindustrie, die in den ersten elf Monaten 2023 Wachstumsraten von 7,5% sowie um 7,8% aufwiesen. Der Umsatz in der Rohstoffindustrie, die mit Sanktionen belegt ist und große Teile des Weltmarktes bedient, ging im Januar-November 2023 hingegen um 1,1% zurück. Im November brach unerwartet auch die Agrarproduktion ein, sodass der Landwirtschaftssektor im besagten Zeitraum um 1,6% schrumpfte.

Insgesamt lässt sich feststellen: Krisengewöhnte russische Unternehmen haben sich meist schnell und erfolgreich an das drastisch veränderte Umfeld angepasst, indem sie neue Kunden, Partner und Lieferanten gefunden haben. Auch die Regierung reagierte rasch auf die sanktionsbedingten Herausforderungen und griff gezielt mittelständischen Unternehmen unter die Arme, indem sie bis auf einige Ausnahmen verpflichtende Prüfungen aussetzte sowie Kreditvergünstigungen und -stundungen implementierte.

Inflation und Arbeitskräftemangel
Die Inflation schätzen iFORA und MTS AI im neuen Jahr auf 6,9%–8,1%, im Mittel fast doppelt höher als die von der Zentralbank langfristig angepeilten 4% sowie um einen halben Prozentpunkt höher als der sich aus der jüngsten Zentralbank-Umfrage ergebende Mittelwert der Prognosen für 2024 (7%).

Die hartnäckig hohe Inflation liegt vor allem an einem immer spürbarer werdenden Arbeitskräftemangel in Russland. Nach Berechnungen des Wirtschaftsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften könnten der russischen Wirtschaft inzwischen knapp fünf Millionen Fachkräfte fehlen. Im Dezember bezeichnete die Alfa-Bank in ihrer makroökonomischen Analyse den insbesondere seit Mitte 2023 ausgetrockneten Arbeitsmarkt als ein zentrales Wachstumshemmnis auf Jahre hinaus.

Vom Arbeitskräftemangel und dem damit einhergehenden Kostendruck sind in erster Linie der Maschinen-, Anlagen-, Fahrzeug- und Gerätebau sowie andere Branchen des verarbeitenden Gewerbes betroffen, weil sie viele hochqualifizierte Fachkräfte benötigen und einer immer stärkeren Konkurrenz vonseiten der Rüstungsindustrie ausgesetzt sind. Daher überrascht es nicht, dass Maschinenbau- und Engineering-Unternehmen für die ersten drei Quartale 2023 einen Anstieg der Nominallöhne um bis zu 19%, real also knapp 14%, gemeldet haben. In weniger wissensintensiven Wirtschaftsbereichen wie zum Beispiel dem Handel sind Kostensteigerungen bislang geringer ausgefallen.

Wenn den Unternehmen Beschäftigte fehlten, können sie nicht genug Waren und Dienstleistungen anbieten, um die unter Wachstumsbedingungen steigende Nachfrage zu befriedigen. Wenn Güter knapp werden, kann weniger in neue Anlagen, Technologien und Produkte investiert werden. Gleichzeitig werden Preissteigerungen befeuert, erklären die Forscher Nikolaj Achapkin von der Akademie der Wissenschaften und Alexander Safonow von der Finanzuniversität der russischen Regierung in Moskau.

Um der bereits seit 2020 hartnäckig über diesem Zielwert verharrenden Teuerung Herr zu werden, hat die Zentralbank seit Juli 2023 den Leitzins von 7,5% auf 16% erhöht. Trotzdem meldete die Statistikbehörde Rosstat Ende vergangener Woche, dass die Verbraucherpreise 2023 im Jahresvergleich um 7,4% gestiegen waren. Erweist sich die iFORA- und MTS AI-Prognose als korrekt, so wird die Inflation auch 2024 nicht spürbar nachlassen, obwohl die Zentralbank der iFORA-Analyse zufolge den Leitzins in diesem Jahr nur geringfügig auf im Mittel 13,5%‑15,2% senken könnte. Die Kreditvergabe und die Konjunktur insgesamt dürften die hohen Zinsen beträchtlich bremsen.

Aus den Berechnungen von iFORA und MTS AI folgt, dass der Rubel auch 2024 unter Druck bleiben dürfte. Vertraut man deren Prognosen, so könnte ein US-Dollar in diesem Jahr durchschnittlich zwischen 90 und 96 Rubel wert sein, um 4%–12% mehr als im Durschnitt des vergangenen Jahres sowie bis zu 7% mehr als zur Jahreswende. Ein Euro könnte 2024 zwischen 95 und 102 Rubel kosten, was in etwa dem Durchschnitts- sowie dem Jahresendwert von 2023 entspricht.

Rohstoffpreise
Für den durchschnittlichen Preis eines Fasses Öl der Nordseemarke Brent im begonnenen Jahr lieferte iFORA eine Spanne zwischen 79 und 83 US-Dollar. Der daraus resultierende Mittelwert von 81 Dollar je Barrel liegt leicht unter der Schätzung der Internationalen Energieagentur in Paris, die für 2024 gleichbleibende Weltölpreise im Bereich von 82-83 Dollar je Fass Brent-Öl prognostiziert hat. Die Tatsache, dass zuletzt eskalierende Spannungen im Roten Meer westliche Reedereien in den vergangenen Tagen zur Umleitung ihrer Schiffe gezwungen haben, könnte den weltweiten Ölpreisen Auftrieb geben.

Steigende Rohstoffpreise wären positiv für den Zustand der öffentlichen Finanzen in Russland. Dabei fällt auf, dass hochrangige Regierungsvertreter Russlands in jüngster Zeit wiederholt vor zu optimistischen Wirtschaftserwartungen gewarnt und von weiterhin beträchtlichen Downside-Risiken gesprochen haben. Der russische Ministerpräsident Michail Mischustin etwa hat kürzlich auf „Ungleichgewichte und Herausforderungen in der Weltwirtschaft“ hingewiesen, die künftig die zurzeit noch gewährleistete Haushaltsstabilität in Russland bedrohen könnten.

Nachdem sich Russlands Wirtschaft von der Krise des vorvergangenen Jahres weitgehend erholt hat, fragen sich die Wirtschaftsauguren zunehmend wieder, ob das Land nun den Weg zu einem nachhaltigen Wachstumspfad finden kann.

Einerseits besitzt Russland auch nach dem Corona-Schock und der jüngsten Sanktionskrise einige Voraussetzungen für anhaltende wirtschaftliche Stabilität und Entwicklung. Dazu gehört die mit 18% des BIP im internationalen Vergleich nach wie vor niedrige Auslandsverschuldung, die in Zukunft auf verschiedene Arten von Fremdfinanzierung zurückgreifen lässt. Die russischen Devisenreserven liegen mit aktuell 593 Milliarden US-Dollar nur 8% unter dem im Februar 2022 erreichten Maximum, auch wenn rund die Hälfte der Reserven sanktionsbedingt in der EU und den USA eingefroren ist.

Andererseits ist der akute Arbeitskräftemangel mit Sicherheit ein Problem, dass erst langfristig zu bewältigen wäre. Die Folgen einer Arbeitskräftekrise ließen sich nur abmildern, wenn stärker auf Arbeitseinwanderung gesetzt wird, die Unternehmen Produktivitätssteigerungen erreichen, indem sie sich auf modernere Maschinen und Anlagen umstellen und die Produktionsabläufe automatisieren, und Produktionen in Länder ohne ein Arbeitskräfteproblem verlagert werden.

Quellen: RBC, Russ. Zentralbank 1, 2, 3, Rosstat