Fokusanalyse

Russisch-chinesische Wirtschaftsbeziehungen

Vor mehr als einem Jahr, im März 2023, wählte Chinas frisch im Amt bestätigter Präsident Xi Jinping Russland für eine erste Auslandsreise. Im Vorfeld des Besuchs veröffentlichte die Rossijskaja gaseta, das Amtsblatt der russischen Regierung, einen Gastbeitrag von Xi. Darin lobte er die bilateralen Beziehungen und hob besonders den rasant wachsenden Handel zwischen beiden Ländern hervor. Darüber hinaus unterstrich er die wirtschaftliche Zusammenarbeit in vier Bereichen: Energiewirtschaft, Raum- und Luftfahrt sowie Verkehrsanbindung.

Nun reist Wladimir Putin zum ersten Mal unmittelbar nach einer gewonnenen Präsidentschaftswahl nach China, nachdem er bereits im vergangenen Herbst dort zu Besuch war. Seitdem haben sich in den von Xi hervorgehobenen Feldern der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Probleme aufgetan.

Bilateraler Handel
Der Boom des russisch-chinesischen Handels begann bereits 2021. In den vorangegangenen zehn Jahren hatte das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern von 80 Mrd. Dollar 2011 auf lediglich 108 Mrd. Dollar 2020 zugelegt. Im darauffolgenden Jahr stieg es sprunghaft auf 147 Mrd. Dollar an, 2022 weiter auf 190 Mrd. und erreichte im vergangenen Jahr 240 Mrd. Dollar.
Das rasante Wachstum ist nicht nur Russlands Energiewende nach Osten zu verdanken. Tatsächlich lieferte Russland im vergangenen Jahr mehr Öl an China, die Gasexporte verdoppelten sich, aber auf niedrigem Niveau, lediglich bei der Kohle gab es eine substanzielle Erhöhung der Volumina von 56 Mio. Tonnen 2021 auf zuletzt 102 Mio. t. Noch stärker entwickelten sich insbesondere seit 2022 die russischen Importe aus China. Zum Beispiel lieferten die Chinesen im vergangenen Jahr Fahrzeuge im Wert von 22,5 Mrd. Dollar nach Russland. Im Vorjahr waren es noch 6,3 Mrd. Dollar. Folglich dominieren chinesische Hersteller mittlerweile den russischen Automarkt weit stärker als die westlichen und asiatischen Markenhersteller vor ihrem Rückzug 2022.
Wachstumsraten brechen ein
Im laufenden Jahr hat sich das Wachstum allerdings stark verlangsamt, wie die chinesische Zollstatistik für Januar bis April zeigt. Das bilaterale Handelsvolumen legte in den ersten vier Monaten nur noch um 4,7% zum Vorjahreszeitraum zu. Die Exporte nach Russland sind seit März sogar rückläufig, zum ersten Mal seit Mitte 2022. Mit 7,6 Mrd. Dollar blieben die chinesischen Ausfuhren dieses Jahr um mehr als 1,4 Mrd. Dollar unter dem Wert des Vorjahres. Auch im April gab es einen Rückgang, um 1,3 Mrd. Dollar bzw. 13%. Insgesamt liegen die chinesischen Exporte in den ersten vier Monaten 2024 um 1,5% über dem Vorjahreswert. Zum gleichen Zeitpunkt des vergangenen Jahres hatte die Wachstumsrate des bilateralen Handels mehr als 41% betragen, bei den chinesischen Exporten sogar 67%.
Beobachter führen die sinkenden Zahlen auf die Furcht der chinesischen Banken vor US-Sanktionen zurück. So haben russische Importeure seit Ende 2023 immer wieder über Probleme im internationalen Zahlungsverkehr geklagt, insbesondere mit „Schlüsselpartnern“ wie der Türkei und China.

Boom oder nur Normalisierung?
Einen einfacheren Grund für die Trendwende sieht die französische Ökonomin Agathe Demarais in ihrem Beitrag für die Londoner Wirtschaftszeitung Financial Times. Tatsächlich habe es in den vergangenen beiden Jahren nicht einen Boom des russisch-chinesischen Handels gegeben, sondern nur ein Aufholen bzw. ein Erreichen eines Niveaus, wie es für vergleichbare Länder normal sei. Die Handelsbeziehungen beider Länder seien vor 2022 unterentwickelt gewesen. Tatsächlich lag der Anteil Russlands am chinesischen Außenhandel 2021 unter 2,43%. Brasilien kam auf 2,71%, obwohl es sich nicht wie Russland eine fast 4200 Kilometer lange Grenze mit China teilt. Als Russland seine wichtigsten Handelspartner in Europa 2022 verloren hatte, habe es sich China gegenüber öffnen müssen, erklärt Demarais. Das habe zu einer Normalisierung des Handelsvolumens geführt. Zuletzt entfielen auf Russland 3,94% des chinesischen Außenhandels, nur wenig mehr als auf Australien mit 3,81%. Brasilien kam im April auf 3,1%.
Russische Gasexporte nach China
Die russischen Exporte von Erdgas über die Pipeline Power of Siberia haben sich seit 2021 mehr als verdoppelt und erreichten im vergangenen Jahr fast 23 Mrd. Kubikmeter Erdgas. Ihr Wert erhöhte sich sogar um das Vierfache. Während immer mehr Gas nach China fließt, halten sich die russischen Einnahmen aus diesen Exporten in Grenzen. Mit durchschnittlich 500 Mio. Dollar pro Monat im vergangenen Jahr bzw. jeweils 650 Mio. Dollar in den ersten beiden Monaten dieses Jahres blieben sie weit unter den Werten, die Gazprom einst im Handel mit Europa verbuchen konnte.
2022 hatte es von seinen Kunden in Europa monatlich 8 Mrd. Dollar erhalten, in den weniger von Krisen geprägten Jahren 2015-2019 waren es im Schnitt 3,3 Mrd. Dollar im Monat. Das liegt auch an den niedrigeren Preisen, die China für das Gas zahlt. 2023 waren es im Schnitt 287 Dollar pro 1000 m³, während die Europäer 461 Dollar zahlten.
Warten auf Power of Siberia 2
Im kommenden Jahr soll die bisher einzige China-Pipeline ihre maximale Kapazität von 38 Mrd. m³ erreichen. Mit dem geplanten Bau neuer Pipelines werde die Gesamtkapazität in Richtung China auf 100 Mrd. m³ im Jahr steigen, teilte die russische Regierung Ende 2023 mit. Das Herzstück dieses Ausbaus trägt den Namen Power of Siberia 2, obwohl sie mehr ist als die Ergänzung der bestehenden Pipeline um einen zweiten Strang. Mit ihr sollen erstmals die Erdgasvorkommen im Westen Sibiriens für den chinesischen Markt erschlossen werden. Aus ihnen hatte Gazprom bisher seine Röhren in Richtung Westeuropa gespeist.

Das Großprojekt befindet sich noch im Planungsstadium. Bisher gibt es weder ein Datum für den Start der Bauarbeiten noch einen Liefervertrag für das Erdgas. Beobachter vermuten, dass die Chinesen zu weniger Investitionen bereit sind, als es sich die Russen wünschen. Vor allem aber dürften sie die Preise für die künftigen Gaslieferungen zu drücken versuchen. Anfang des Jahres sagte der Premierminister der Mongolei, Luwsannamsrain Ojuun-Erdene, dass sich der Baubeginn der Pipeline wegen der Preisfrage verzögern dürfte. Power of Siberia 2 soll durch das zwischen Russland und China liegende Land verlaufen. Der chinesische Botschafter in Moskau, Zhang Hanhui, bemerkte Anfang Mai, dass bei dem Projekt mehr als nur die Frage des Preises offen sei. Der russische Energie-Thinktank FNEB versteht dies als Hinweis auf den Wunsch Pekings nach einer Beteiligung an den russischen Gasfeldern, ähnlich wie sie Russland vor 2022 den Europäern gewährt hatte. Außerdem dürften die Chinesen mit einer Entscheidung abwarten, solange „die heiße Phase der Ukraine-Krise“ nicht beendet sei, meint FNEB-Vizechef Alexej Griwatsch.
Russische AKW in China
Beim Bau von Kernkraftwerken ist Russland für China ein „Hochtechnologiepartner“, wie ein Beitrag der Rossijskaja gaseta vor kurzem betonte. Der staatliche Kernkraft-Konzern Rosatom setzt nach eigenen Angaben zurzeit zwei seiner 33 Auslandsprojekte in China um. Eines davon ist das AKW Tianwan, dessen Bau schon in den Neunzigerjahren beschlossen wurde. Seit seiner Inbetriebnahme im Jahr 2007 ist es von den Russen immer wieder erweitert worden. Rosatom bezeichnet das Kraftwerk als das größte gemeinsame wirtschaftliche Vorhaben beider Länder. 2018 gaben die Chinesen eine vierte Ausbaustufe mit den Reaktorblöcken Nr. 7 und 8 in Auftrag. Auch beim zweiten aktuellen Bauvorhaben, dem AKW Xudapu, datieren die jüngsten Verträge auf 2018. Dort bauen die Russen die Blöcke Nr. 3 und 4, während für die ersten beiden Blöcke ein US-Unternehmen zuständig ist. Seitdem hat es offenbar keinen neuen großen Auftrag der Chinesen für Rosatom gegeben, obwohl in dem Land so viel neue Kernkraft entsteht wie nirgends sonst auf der Welt. Laut der NGO World Nuclear Association wurde in China im vergangenen Herbst an 24 Kraftwerken oder Reaktorblöcken gebaut, drei Mal mehr als in Indien, das in diesem Vergleich an zweiter Stelle stand.

Es gibt nur wenige Informationen zum Wert der AWK-Aufträge. Das, was bekannt ist, deutet auf einen Vertragswert von 1-2 Mrd. Dollar pro Reaktorblock hin. Die russische Regierung selbst bezifferte die Kosten der ersten vier Blöcke für Tianwan auf zusammen 3,1 Mrd. Dollar. Am freien Markt und ohne „geopolitische Faktoren“, die den Preis mitbestimmen, würden die vier 2018 von China in Auftrag gegebenen Blöcke 26 Mrd. Dollar kosten, schätzten damals russische Experten.

Zweifel an Flugzeug-Kooperation
Vor einem Jahr pries Chinas Staatschef Xi Jinping noch die Luftfahrt als eines von vier Gebieten, auf denen die Zusammenarbeit zwischen China und Russland gedeihe. Gemeint war die 2014 vereinbarte und 2017 begonnene gemeinsame Entwicklung des Großraumflugzeugs CR929, das je nach Variante 230-320 Passagiere befördern und eine Reichweite bis zu 14.000 Kilometer haben sollte. Die 2022 vom Westen verhängten Sanktionen ließen selbst russische Politiker bis hin zu Vize-Premier Denis Manturow an dem Projekt zweifeln. Mitte 2023 hat der auf chinesischer Seite zuständige staatliche Flugzeugbauer COMAC das „R“ aus dem Namen des künftigen Fliegers gestrichen und tritt seitdem als alleiniger Entwickler auf. Statt dem bisherigen russischen Partner, dem Staatskonzern Rostec, sollen die Chinesen nun mit westlichen Unternehmen zusammenarbeiten. Damit schien Russlands Teilhabe am 20-Milliarden-Dollar-Projekt beendet zu sein. Im Herbst desselben Jahres sagte Russlands Präsident Wladimir Putin jedoch, dass Verhandlungen beider Länder über das Großraumflugzeug „schon seit langem, aber immerhin“ noch liefen.

Rollentausch in der Raumfahrt
In seiner jahrzehntelangen Weltraum-Partnerschaft mit China hatte Russland traditionell die Rolle des Seniors eingenommen. Heute muss sich die Heimat von Sputnik und Gagarin gegenüber einem finanziell potenten China mit der Juniorrolle zufriedengeben, urteilte vor einem Jahr der US-Thinktank CNA in einer Studie. So beliefen sich die staatlichen Ausgaben für die Raumfahrt in China im vergangenen Jahr auf mehr als 14 Mrd. Dollar, während es in Russland nur 3,4 Mrd. Dollar waren, nur wenig mehr als in Deutschland, das 2,3 Mrd. Dollar ausgab.

Die letzten gemeinsamen Stellungnahmen zur Weltraumpartnerschaft stammen aus dem Frühjahr 2021. Im März 2021 verkündeten die Weltraumbehörden beider Länder, Roskosmos und die Nationale Raumfahrtbehörde Chinas (CNSA), eine gemeinsame Mondstation errichten zu wollen. Einige Wochen später luden sie andere Länder zur Teilnahme an dem Projekt ein. Seitdem hat sich nur noch die russische Seite zu der Partnerschaft geäußert. Ende 2022 teilte Roskosmos mit, dass es mit CNSA einen Kooperationsplan für die Jahre 2023-2027 vereinbart und die Zusammenarbeit bei der Mondstation schriftlich fixiert habe. Mitte März 2024 bestätigte die russische Regierung die Vereinbarung, die sie von der Duma nun ratifizieren lassen will. Anfang Mai meldete Roskosmos-Chef Jurij Borissow den Start der Entwicklung eines Kernkraftwerks für die Versorgung der künftigen Mondstation vor Ort. Aus China gab es seit 2022 keine offizielle Stellungnahme zu einer Mond-Partnerschaft mit Russland, wie etwa das Fachmagazin Flug Revue vor kurzem anmerkte. In dem neuen Imagefilm, den CNSA Ende April veröffentlichte, wird eine besondere Partnerschaft mit Russland nicht erwähnt. Dennoch glauben westliche Analysten, dass China weiter an der Mond-Partnerschaft mit Russland festhält. Das Vorpreschen der Russen in den vergangenen Wochen sei kaum ohne Billigung der Chinesen vorstellbar, so die Vermutung.