Fokusanalyse

Eingefrorene russische Mittel und der 50-Milliarden-Dollar-Kredit

Nach dem 24. Februar 2022 haben westliche Staaten Vermögenswerte der russischen Zentralbank eingefroren. Diskussionen, ob und wie die Mittel zur Unterstützung der Ukraine herangezogen werden können, werden seit etwa einem Jahr intensiv geführt. Wir haben sie im März in einer Fokusanalyse zusammengefasst.

Den Großteil der eingefrorenen Mittel hatte Russland in der EU angelegt. Laut der EU-Kommission beträgt das Volumen weltweit 260 Mrd. Euro, von denen rund 210 Mrd. Euro auf die EU entfallen. Die restlichen Mittel verteilen sich auf die USA, Großbritannien, Japan und die Schweiz, die als einziges der genannten Länder nicht zur G7 gehört.

Abschöpfung der Erträge statt Enteignung
Gegen eine Enteignung Russlands sprachen vor allem rechtliche Bedenken und die Sorge um das Ansehen Europas unter globalen Investoren. Seit dem Frühjahr hatte sich abgezeichnet, dass die EU stattdessen nur auf die Erträge aus den eingefrorenen russischen Mitteln zugunsten der Ukraine zurückgreifen will.

Am 21. Mai brachte der EU-Rat diese „am wenigsten radikale“ Lösung auf den Weg, wie die polnische Ökonomin Iwona Wiśniewska urteilte. Die EU-Kommission schätzte die Unterstützung, die damit der Ukraine gewährt werden könne, auf 2,5 bis 3 Mrd. Euro pro Jahr. Eine erste Überweisung von Erträgen in Höhe von 1,5 Mrd. Euro verkündete die EU Ende Juli.

Erträge „kein russisches Eigentum“
Nach Ansicht der EU-Kommission sind die Erträge aus den eingefrorenen russischen Mitteln nicht Eigentum Russlands, da sie „nur wegen der Entscheidung, diese Vermögenswerte zu sperren, anfallen“. Der Kreml teilt diese Einschätzung nicht. Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow bezeichnete Ende August die Übereignung der Erträge an die Ukraine als „illegale Enteignung“ sowie „Diebstahl unseres Geldes“ und kündigte rechtliche Schritte dagegen an.

Wiśniewska skizziert eine mögliche Begründung der EU-Position. Die russischen Mittel waren innerhalb der EU z. B. in Staatsanleihen angelegt. Mittlerweile seien viele dieser Anleihen bereits ausgeschüttet worden. Das bedeutet, dass die Beträge auf Konten der Zentralverwahrer ausgezahlt wurden und dort nun auf ihre Abhebung warten. Die Erträge aus diesen „geparkten“ Mitteln gehörten den Verwahrern und nicht der russischen Zentralbank, meint Wiśniewska übereinstimmend mit der EU-Kommission.

Das erklärt, warum die EU nicht auf sämtliche Erträge seit dem Einfrieren der russischen Mittel im Frühjahr 2022 zurückgreifen möchte, sondern einen späteren Stichtag, den 15. Februar 2024, wählte. Der belgische Zentralverwahrer Euroclear, bei dem praktisch alle russischen Mittel liegen, beziffert die Erträge seit 2022 bis Ende März 2024 auf insgesamt 5 Mrd. Euro. Um den Weg für eine mögliche Entnahme der Erträge zu bereiten, hatte die EU darüber hinaus bereits im Februar die Zentralverwahrer der russischen Werte angewiesen, die Erträge auf separaten Konten zu führen. Außerdem ist es den Verwahrern ab dem 15. Februar verboten, die Gewinne an die Eigentümer der Mittel auszuschütten.

Erträge als Grundlage für 50-Milliarden-Kredit
Die USA haben Schätzungen zufolge nur rund 5 Mrd. Dollar an Werten der russischen Zentralbank eingefroren. Die Nachrichtenagentur Reuters schreibt in ihren jüngsten Berichten von rund 10 Mrd. Dollar. Von Anfang an befürwortete die US-Regierung die Enteignung der russischen Mittel. Auch nachdem klar wurde, dass die Europäer und nicht zuletzt Deutschland nicht dazu bereit waren, drängten die USA auf eine entschiedenere Nutzung der Mittel. Nicht nur die Erträge, sondern sämtliche Mittel sollten zugunsten der Ukraine „arbeiten“, wie es der Nationale Sicherheitsberater im Weißen Haus, Jake Sullivan, formulierte. Einen Weg, dies zu erreichen, schlug US-Präsident Joe Biden vor: Mithilfe der eingefrorenen Mittel solle ein großer Kredit an die Ukraine finanziert werden. Die Erträge würden dabei zur Tilgung und Bezahlung der Zinsen verwendet werden.

Tatsächlich verständigten sich die USA mit ihren Partnern in der G7, zu denen auch die EU-Schwergewichte Deutschland und Frankreich gehören, auf diese Lösung. Joe Biden sagte nach der Entscheidung beim G7-Gipfel Mitte Juni in Rom, er sei stolz, „dass die USA mehr als 50 Mrd. Dollar an Investitionen weltweit mobilisiert haben“.

Laut der Verlautbarung der Staats- und Regierungschefs sollen bis Ende des Jahres 50 Mrd. Dollar der Ukraine als „zusätzliche Finanzierung“ bereitgestellt werden. Das Darlehen solle „bedient und zurückbezahlt werden aus den zukünftig fließenden außerordentlichen Einnahmen, die aus immobilisierten staatlichen russischen Vermögenswerten resultieren, die in der Europäischen Union und anderen einschlägigen Staaten und Gebieten gehalten werden“, so die G7-Erklärung. Über „verschiedene Kanäle“ sollen die Mittel in Verteidigung, Budget und Wiederaufbau der Ukraine fließen.

In welcher Höhe sich die einzelnen Länder am Kredit beteiligen, sei Teil der kommenden Verhandlungen, sagte damals US-Finanzministerin Janet Yellen. Medienberichten zufolge wollten die USA und die EU jeweils 20 Mrd. Dollar übernehmen, die restlichen 10 Mrd. Dollar würden Kanada, Großbritannien und Japan unter sich aufteilen. Die kanadische Regierung bezifferte ihren Anteil auf 5 Mrd. Dollar, Japan wollte laut der Nachrichtenagentur Kyodo 3,3 Mrd. Dollar übernehmen.

„Umschichtung“ der deutschen Hilfen
Die Bundesregierung hat den angekündigten Großkredit bereits in ihre eigene Planung von Ukraine-Hilfen integriert. Das bestätigte Mitte Juli eine Sprecherin der Bundesregierung. Einen Monat später wurde bekannt, dass im Bundeshaushalt für das laufende Jahr keine weiteren Mittel für die Ukraine vorhanden seien und dass auch die Mittel für das nächste Jahr bereits fest verplant seien. Auch sei keine Aufstockung der Mittel für 2025 zu erwarten. Für den Haushalt 2024 hatte die Regierung vor einem Jahr nachträglich eine Verdoppelung auf 8 Mrd. Euro beschlossen.

Das Bundesfinanzministerium will trotzdem nicht von einer Reduzierung der deutschen Hilfen sprechen. In einem Brief an das Verteidigungsministerium, über das ein großer Teil der deutschen Ukraine-Hilfe abgewickelt wird, verwies Finanzminister Christian Lindner Anfang August auf die eingefrorenen russischen Zentralbankgelder. Anstelle des Bundeshaushalts solle der von der G7 beschlossene 50-Milliarden-Dollar Kredit „einen wesentlichen Teil“ des ukrainischen Bedarfs decken, so das Schreiben. Ähnlich deutete die deutschen Pläne Ende August auch die Wirtschaftszeitung Handelsblatt: „Tatsächlich aber soll die Hilfe nur umgestellt werden: Statt aus den nationalen Etats soll sie stärker aus den Erträgen des russischen Vermögens finanziert werden.“

Diese Ansicht stößt jedoch sowohl innerhalb der Regierungskoalition in Deutschland als auch international auf Kritik. Zu unsicher sei, wann und ob überhaupt die zugesagten Mittel tatsächlich an die Ukraine ausgezahlt werden könnten, so der Tenor. Dabei sind nicht nur zahlreiche technische Details offen. Das größte Fragezeichen steht hinter der Beteiligung der USA an dem Vorhaben, das nach Einschätzung der New York Times von Mitte September noch immer in der Luft hängt.

Beteiligung der USA ungewiss
Die Sanktionen der EU gegen Russland und damit auch das Einfrieren russischer Vermögenswerte müssen bisher alle sechs Monate erneuert werden. Dafür ist ein einstimmiger Beschluss des EU-Rats erforderlich, der von einzelnen Staaten wie dem als russlandfreundlich geltenden Ungarn verhindert werden könnte. Aus diesem Grund stufte das Amt für Haushaltswesen im Weißen Haus den G7-Plan als risikobehaftet ein, erläutert die New York Times. Daher müsse die US-Beteiligung vom Kongress der USA, also beiden Kammern des Parlaments, abgesegnet werden. Dies sei jedoch „logistisch und politisch unwahrscheinlich“, so der Bericht.

Die Zustimmungspflicht durch den Kongress könnte dagegen entfallen, wenn die EU ihr Sanktionsrecht ändere und damit das Risiko für die amerikanischen Steuerzahler verringere. Die EU-Kommission will zwar nicht den Rhythmus ihrer Sanktionen generell ändern, ist aber dazu bereit, den USA bei ihren Sanktionen gegen die russischen Vermögenswerte entgegenzukommen. Sie sollen künftig nur noch alle 36 Monate verlängert werden müssen, anstatt wie bisher jedes halbe Jahr. Dafür ist jedoch ebenfalls ein einstimmiger Beschluss nötig, der also von Ungarn verhindert werden könnte. Selbst wenn dies nicht geschehe, würde eine 36-Monate-Frist das Risiko für den US-Haushalt nicht beseitigen, womit weiterhin der Kongress dem Plan zustimmen müsste, schreibt die New York Times.

EU mit „Plan B“
Angesichts dieser Ungewissheit hat die EU-Kommission einen „Plan B“ gefasst, den Kredit notfalls ohne die USA zu stemmen, wie die Financial Times Mitte September berichtete. Vergangene Woche veröffentlichte die Kommission ihren Vorschlag, „bis zu 35 Mrd. Euro“ von den insgesamt umgerechnet 45 Mrd. Euro, die von den G7 zusammen mit der EU zugesagt wurden, zu übernehmen. Die restlichen Mittel sollen von „den anderen G7-Partnern“ stammen, so die Mitteilung. Der Kredit soll mit den Erträgen der eingefrorenen russischen Mittel finanziert werden, „sowie von freiwilligen Beiträgen von Mitgliedstaaten und Drittstaaten oder anderen Quellen“, heißt es im Q&A der Kommission zu ihrem Plan. Die Beteiligung der USA wird darin nicht angesprochen. Aus Kreisen der Kommission hieß es, dass sie mit ihrem Plan bei „westlichen Verbündeten“ um eine finanzielle Beteiligung werben wolle. Die EU würde ihren Beitrag entsprechend nach unten anpassen. Es bestehe die Hoffnung, dass die USA bis zum Jahrestreffen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds Ende Oktober über eine Beteiligung entscheiden.

EU unter Zeitdruck
Als die G7 im Juni ihren 50-Milliarden-Dollar-Plan für die Ukraine bekannt gaben, setzten sie sich für seine Umsetzung eine Frist bis Ende 2024. Ein Grund für die Eile war neben dem akuten Bedarf der Ukraine auch die im November anstehende Präsidentschaftswahl in den USA. Im frühen Sommer schien eine erneute Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Donald Trump beinahe als sicher. Der Großkredit sollte als finanzieller Puffer dienen, weil die weitere Unterstützung der Ukraine durch eine Regierung Trump als ungewiss gilt. Nach dem Austausch des Präsidentschaftskandidaten durch die Demokratische Partei habe sich diese Dringlichkeit abgeschwächt, bemerkte Anfang September die US-Zeitung Politico. Grund seien die guten Umfragewerte der neuen Herausforderin von Trump, der amtierenden Vizepräsidentin Kamala Harris. Zugleich hätten sich die Gräben zwischen den USA und der EU über die Details des gemeinsamen Kredit-Plans vertieft, erfuhr das Blatt aus EU-Kreisen.

Für ihren 35-Milliarden-Euro-Kredit will die Kommission die sogenannte Makrofinanzhilfe nutzen. Für die Aufstockung der über diesen Mechanismus bereits laufenden Ukraine-Hilfe genügt ein Beschluss des EU-Parlaments und eine qualifizierte Mehrheit der EU-Mitglieder. Das bedeutet, dass mindestens 15 Staaten mit zusammen 65% der EU-Bevölkerung zustimmen. Allerdings müsste dies noch 2024 erfolgen. Ab dem kommenden Jahr ist hingegen ein einstimmiger Beschluss der Mitgliedsstaaten erforderlich, wodurch einzelne Länder den Plan zu Fall bringen könnten.