Fokusanalyse

Flugindustrie und Sicherheit

Aktueller Stand der russischen Luftfahrtindustrie
Westliche Sanktionen haben die russische Flugwirtschaft hart getroffen. Sie betreffen nicht nur den Erwerb neuer Flugzeuge, sondern auch die Beschaffung essenzieller Ersatzteile. Trotz dieser Restriktionen haben russische Fluggesellschaften laut einem Bericht der deutschen Wirtschaftszeitung Handelsblatt vom September 2023 Wege gefunden, über Drittländer 2023 Komponenten im Wert von mindestens 110 Mio. Dollar zu importieren. Die Abhängigkeit von ausländischer Technologie ist groß, insbesondere bei Flugzeugantrieben.

Aeroflot, die größte russische Fluggesellschaft, leidet besonders unter den Sanktionen. Die Firma verlor nicht nur bedeutende Einnahmen aus Überfluggebühren europäischer Fluggesellschaften, die vor der Pandemie zwischen 500 und 800 Mio. Dollar jährlich lagen, sondern auch Zugang zu den im Vergleich zum Inlandsgeschäft profitableren internationalen Märkten. Als Reaktion darauf plant Aeroflot, bis 2030 seinen Anteil am Inlandsmarkt von 38% auf 50% bis 2030 und das Passagieraufkommen insgesamt um 60% zu erhöhen. Die Fokussierung auf den Inlandsmarkt ist eine direkte Folge der Sanktionen, die den direkten Flugverkehr zwischen Russland und dem Westen zum Stillstand brachten. Daten des russischen Bundesamts für Luftverkehr Rosawiazija zeichnen ein klares Bild von der Dominanz westlicher Flugzeugmodelle. Aeroflot, das Flaggschiff der russischen Fluggesellschaften, besitzt eine flotte Flotte aus 174 modernen Airbus- und Boeing-Modellen. S7 Airlines, die größte private Fluggesellschaft Russlands, setzte vor allem auf den Airbus A320. Sämtliche 41 Flugzeuge von Pobeda, dem Low-Coster der Aeroflot Gruppe, sind amerikanische Boeings. Unter den großen Fluggesellschaften hat einzig Rossiya Airlines, auch ein Teil der Aeroflot Gruppe, eine nennenswerte Flotte von russischen Flugzeugen, den Sukhoi Superjet.
Die russische Zivilluftfahrtindustrie, einst ein stolzer Zweig der sowjetischen Industrie, hat seit dem Zerfall der Sowjetunion einen signifikanten Rückgang in der Produktion von Flugzeugen erlebt. Während der Höhepunkte in den Jahren 1965 bis 1975 erstreckten sich die Produktionszahlen von 166 bis 304 Flugzeuge.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 erfuhr die russische Luftfahrtindustrie einen dramatischen Einbruch. In den Jahren 1995 bis 2000 sank die Produktion auf ein Niveau von nur 20 bis 25 Flugzeugen, ein Bruchteil der Produktionszahlen aus den 1970er Jahren.

Mit nur 7 Flugzeugen im Jahr 2010 erreichte die Produktion einen Tiefpunkt, was die Schwierigkeiten der Branche unterstreicht, sich in der post-sowjetischen Ära neu zu positionieren und zu stabilisieren. Trotz eines leichten Aufwärtstrends in den folgenden Jahren, mit 29 produzierten Einheiten im Jahr 2021, bleibt die Industrie weit entfernt von ihrer einstigen Sowjetgröße.

Russische Fluggesellschaften haben im Zeitraum von 2023 bis Anfang 2024 insgesamt 165 Flugzeuge von ausländischen Leasinggebern gekauft, basierend auf öffentlich zugänglichen Daten. Die finanziellen Mittel für diesen Zweck waren auf 300 Mrd. Rubel (ca. 3,03 Mrd.) aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds (NWF) begrenzt. Laut der russischen Wirtschaftszeitung RBC sind diese Mittel bereits aufgebraucht.

Die akquirierten Flugzeuge machen etwa 40% der ausländischen Flugzeugflotte aus, die trotz Sanktionen und der Aufforderung ausländischer Leasinggeber, die Maschinen zurückzugeben, in Russland verblieben ist. Mit diesem Schritt werden ausländische Registrierungen entfernt und die Eigentumsrechte an den Flugzeugen auf die staatliche Versicherungsgesellschaft NSK übertragen. Ohne die Registrierung in Russland könnten die Flugzeuge im Ausland konfisziert werden. Die Mittel des Nationalen Wohlfahrtsfonds wurden als Vorzugsdarlehen mit einem Zinssatz von 1,5% für 15 Jahre den Fluggesellschaften zur Verfügung gestellt.
Aeroflot hat laut RBC mit seinen Leasinggebern Streitigkeiten über 93 Flugzeuge beigelegt, wobei die erste Transaktion im Dezember 2022 für zehn Boeing 777-Großraumflugzeuge erfolgte. Im Laufe des Jahres 2023 wurden dann weitere Flugzeuge übernommen, darunter 18 im September, 30 im Oktober und 28 im Dezember. Zusätzlich schloss Aeroflot im Februar 2024 Vergleiche für sieben weitere Flugzeuge ab. Die größte private russische Airline S7 Airlines erwarb im Dezember 45 Flugzeuge in einer Tranche, und Ural Airlines kündigte gleichzeitig die Übernahme von 19 Airbus-Flugzeugen an.

Aurora, eine fernöstliche Fluggesellschaft, überführte acht Mittelstrecken-Airbus A319 in russischen Besitz, und fünf dieser zuvor auf den Bermudas registrierten Flugzeuge wurden zwischen Oktober 2023 und Januar 2024 von der Doppelregistrierung befreit.

Brancheninsider schätzen, dass die gekaufte Anzahl an Flugzeugen ausreichend ist, um die Nachfrage nach internationalen Flügen zu decken. Die Priorität der russischen Regierung liege deshalb vermehrt darauf, den Transportbedarf innerhalb Russlands zu decken. Eine weitere Bereitstellung staatlicher Mittel für den Buyout von geleasten Flugzeugen wird als unwahrscheinlich angesehen, es sei denn, es gibt ein Problem mit fehlenden Transportkapazitäten auf internationalen Routen oder der Staat verfügt über überschüssige finanzielle Ressourcen.

Heinrich Großbongardt, ein deutscher Flugindustriespezialist ordnete im Podcast „Zaren. Zahlen. Fakten“ der Deutsch-Russischen-Auslandshandelskammer die Käufe der russischen Airlines ein: „Russland hat erhebliche finanzielle Mittel eingesetzt, um seine Flugzeugflotte zu legalisieren, mit Ausgaben von etwa 15 Mrd. Dollar. Allein im Januar wurden Flugzeuge im Wert von 2,2 Mrd. Dollar erworben, darunter vornehmlich Modelle wie die Boeing 737 und der Airbus A320.“ Diese Strategie ziele darauf ab, Unsicherheiten im internationalen Betrieb zu vermeiden, besonders da der Langstrecken-Tourismusverkehr eine bedeutende Rolle spielt.

Ambitionierte Pläne für eigene Flugzeuge
Laut einem Erlass der russischen Regierung vom 25. Juni 2022, der den Titel „Programm für die Entwicklung der russischen Luftverkehrsbranche bis 2030“ trägt, soll die Anzahl russischer Flugzeugmodelle von 377 Einheiten im Jahr 2022 auf 1395 im Jahr 2030 wachsen. Im Gegensatz dazu soll die Anzahl der Flugzeuge ausländischer Produktion von 686 im Jahr 2022 auf 319 im Jahr 2030 sinken. Ob dieses Ziel tatsächlich erreicht werden kann, ist unklar.
Der Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt, ehemaliger Pressesprecher von Boeing Deutschland prognostiziert, dass in zehn Jahren wahrscheinlich keine westlichen Flugzeuge mehr im russischen Luftraum zu finden sein werden, und rechnet damit, dass die Sanktionen lange in Kraft bleiben. Russland muss dementsprechend die Produktion von Flugzeugen wie der langerwarteten MS-21 oder der modernisierten Iljuschin-96 steigern. Obwohl der bereits seit Jahrzehnten sich im Einsatz befindende Superjet beim Anschaffungspreis im Vergleich zu seinen westlichen Pendants konkurrenzfähig ist, ist er wartungsintensiver, verbringt mehr Zeit am Boden und verbraucht mehr Treibstoff, so Brancheninsider. Zurzeit sind rund 160 Superjets in Russland im Einsatz.

Auch die Entwicklung des MS-21 leidet unter den Sanktionen. Ursprünglich für 2021 geplant, wurde die Indienststellung auf 2025 verschoben, da über 80 importierte Systeme und Komponenten ersetzt werden müssen.
Branchenexperten erwarten, dass die russischen Modelle wie der Superjet oder MS-21 in großen Märkten nicht mit Boeing und Airbus konkurrieren können. Doch in kleineren Märkten, wie beispielsweise in Indonesien, könnten russische Flugzeuge aufgrund ihres Preis-Leistungs-Verhältnisses durchaus wettbewerbsfähig sein. Diese Einschätzung stützt sich auf Russlands langjährige Tradition im Flugzeugbau, die bis in die Sowjetzeit zurückreicht, als Tausende von Flugzeugen produziert wurden und das Land über ein beachtliches Maß an Know-how verfügte. Ob es gelingt, an diese Tradition anzuknüpfen, ist fraglich.
Die aktuelle Flotte westlicher Flugzeuge in Russland umfasst etwa 600 Maschinen mit einem Durchschnittsalter von ca. 12 Jahren. Sie wurden seit den 2000er Jahren beschafft. Laut Großbongardt wurden in der jüngeren Vergangenheit durchschnittlich etwa 50 westliche Flugzeuge pro Jahr zum Bestand hinzugefügt.

Zur Förderung der Luftfahrtindustrie hat die russische Regierung die Bereitstellung von rund 3 Mrd. Euro (283 Mrd. Rubel) aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds bis 2030 beschlossen. Diese Investition soll in die Modernisierung und den Ausbau der industriellen Kapazitäten fließen. Über 600 Flugzeuge sollen so für russische Fluggesellschaften bis zum Jahr 2030 produziert werden. Das gesamte Kapitalinvestitionsprogramm umfasst rund 10 Mrd. Euro (1 Bio. Rubel), wobei der Nationalen Wohlfahrtsfonds 28,8% der gesamten Investitionen trägt.
Mit der geplanten Erhöhung der Tu-214-Produktion und der Beibehaltung der Lieferungen anderer Modelle wie Superjet, MS-21-310, Il-114-300 und Il-96-300 setzt Russland auf die Importsubstitution seiner Flotte. Es wird ein Bedarf von 1869 Flugzeugen für Inlands- und Exportmärkte bis 2040 prognostiziert. Der Geschäftsführer von Tupolev, Wadim Korolew, erwähnte, dass die Nachfrage nach Tu-214 Passagierjets bis 2032 bei 150 Einheiten liege, mit festen Verträgen für 20 Flugzeuge, Absichtserklärungen für 67 Flugzeuge und Anfragen von offiziellen Kunden für 61 Flugzeuge. Der Tu-214, ein Mittelstrecken-Schmalrumpfjet, kann bis zu 210 Passagiere befördern.
Passagierzahlen steigen 2023 trotz Sanktionen
Im Jahr 2023 transportierten russische Fluggesellschaften 105 Mio. Passagiere. Dies entspricht einer Steigerung von 10 % gegenüber dem Vorjahr. Eine Analyse der russischen Wirtschaftszeitung Vedomosti zeigt, dass von der Gesamtzahl 82,7 Mio. Passagiere auf Inlandsflügen und 22,3 Mio. auf internationalen Routen transportiert wurden.

Die Luftfahrtbranche in Russland erlebte bis zur COVID-19-Pandemie ein stetiges Wachstum. 2020 wurden internationale Flüge weltweit eingeschränkt, was zu einem Rückgang auf nur 69,2 Mio. Passagiere führte – ein Minus von 46%. Im Jahr 2021 begann eine Erholungsphase, getrieben durch die Wiederaufnahme internationaler Verbindungen und verstärkte Inlandsförderung, was zu einem Anstieg auf 111 Mio. Passagiere führte.

2022 kam es zu einem Rückgang auf 95,2 Mio. Passagiere. Im Vergleich zu den Vorkrisenzahlen von 116,2 Mio. im Jahr 2018 und dem Rekord von 128,1 Mio. im Jahr 2019, bleibt die Branche hinter den früheren Hochs zurück.
Dennoch wurde 2023 die Prognosen des im Entwicklungsprogramms für die Luftfahrtwirtschaft bis 2030 festgehaltenen Wachstums deutlich überschritten. Dieses Szenario prognostizierte für 2023 eine Beförderung von 101,2 Mio. Passagieren und wurde um knapp 4 Mio. übertroffen.

Die private sibirische Fluggesellschaft S7 gab bekannt, dass sie im vergangenen Jahr 15,9 Mio. Passagiere transportierte, was einem ähnlichen Volumen wie im Jahr 2022 entspricht. Von diesen Zahlen entfallen 14,5 Mio. auf Inlandsflüge und 1,4 Mio. auf internationale Strecken. Trotz eines leichten Rückgangs im Gesamtpassagieraufkommen konnte S7 den Verkehr auf internationalen Strecken um das 1,5-fache steigern.

Ural Airlines berichtete über ein Passagierwachstum von 11 % im Vergleich zum Vorjahr, mit 9,4 Mio. beförderten Passagieren 2023. Diese Zahl unterteilt sich in 6,77 Mio. Inlandsreisende und 2,6 Mio. internationale Passagiere.

Experten weisen gegenüber der Wirtschaftszeitung Vedomosti darauf hin, dass die Erholung des Luftverkehrs auf die Neuorientierung auf inländische touristische Ziele zurückzuführen ist. Für 2024 wird ein anhaltendes, aber verhaltenes Wachstum erwartet, wobei die Entwicklung stark von der Aufrechterhaltung und dem Ausbau der eigenen Flugzeugflotte abhängen wird.

Unterschiedliche Meinungen zur Flugsicherheit
Über die Sicherheit der russischen Luftfahrtindustrie gibt es verschiedene Ansichten: Die russische Tageszeitung Kommersant gibt an, dass trotz der Sanktionen und der daraus resultierenden Herausforderungen bei der Beschaffung von Ersatzteilen die Anzahl der Zwischenfälle im Luftverkehr weitgehend stabil geblieben ist. In einem Artikel aus dem Dezember 2023 wird jedoch eine Zunahme um 20% von Flugverspätungen aufgrund technischer Probleme erwähnt.
Das russische Verkehrsministerium sieht die Flugsicherheit in Russland trotz der westlichen Sanktionen gewährleistet. „Die Betriebssicherheit der aktuellen Flotte an ausländischen und russischen Zivilflugzeugen kann mit gebündelten Kräften auf hohem Niveau aufrechterhalten werden“, versicherte die Behörde Anfang März. Zudem habe Russland „eine der jüngsten Flotten von Langstreckenflugzeugen weltweit“. „Sie ist jünger als der europäische Durchschnitt.“ Für die Zukunft setzt das Ministerium auf importsubstituierte russische Flieger der Typen Sukhoi Superjet und MS-21. Der Beginn ihrer Serienproduktion wurde allerdings von 2023 auf 2026 bzw. von 2024 auf 2026 verschoben, wie der zuständige Staatskonzern Rostec vor wenigen Tagen mitteilte. Das Industrie- und Handelsministerium führte die Verzögerungen auf „technische Probleme“ und die Notwendigkeit längerer Tests zurück.

Im Gespräch mit der Kammer betont ein westlicher Branchenkenner sein Vertrauen in bestimmte russische Fluggesellschaften wie beispielsweise S7 und Ural Airlines, die sich streng an die Herstellervorgaben halten würden. Der Experte glaubt nicht an eine Zunahme von ernsten Unfällen, da viele Probleme noch lösbar seien und Unfälle häufiger auf menschliches Versagen als auf technische Mängel zurückzuführen sind. „Ich glaube nicht, dass es in naher Zukunft ernste Flugzeugunfälle in Russland gibt.“ Die technischen Probleme der russischen Airlines seien heute noch lösbar. Zudem seien Flugzeugunfälle in den allermeisten Fällen eh auf menschliches Versehen zurückzuführen.
Im Gegensatz dazu zeichnete die Washington Post im Januar 2024 ein düsteres Bild der Situation und hob hervor, dass die durch Sanktionen verursachte Schwierigkeit, Ersatzteile zu erhalten, die Sicherheitsstandards in Russland negativ beeinträchtigt hat. Berichte über Notlandungen und andere schwerwiegende mechanische Ausfälle stellen die Flugsicherheit in Frage und wecken Befürchtungen unter den Passagieren.

Quellen: Vedomosti (RU), Kommersant (RU), Washington Post (EN), RBC (RU), Aviastat (RU), Handelsblatt (Deutsch), Rosawiazija (RU)