Fokusanalyse

„Russlands Google“ Yandex im Umbruch

Bis zum 30. April soll alles bereit sein für den historischen Schritt: Die niederländische Yandex N. V. übergibt die Kontrolle über ihr Kerngeschäft nach Russland, wie der Konzern Ende März mitteilte. Dafür hatte er Ende 2023 das Unternehmen MKPAO Yandex mit Sitz im Gebiet Kaliningrad gegründet, in einer der beiden innerrussischen Steueroasen. Mit dem Transfer wäre die „erste Etappe“ der 2022 angekündigten Heimholung des größten Unternehmens im russischen Internet, dem sogenannten Runet, vollbracht. Der anschließende Verkauf an einheimische Investoren bildet die zweite Etappe.

Die bisherige Muttergesellschaft will zusammen mit Yandex-Mitgründer Arkadij Wolosch künftig unter einem neuen Namen außerhalb Russlands tätig sein. Vom alten Yandex übernimmt sie außer dem Cloud-Dienst Nebius nur Nischensparten wie die Entwicklung autonomer Fahrzeuge. Nach dem 24. Februar 2022 hatte die EU Wolosch auf ihre Sanktionsliste gesetzt. Der Vorwurf lautete damals, dass Yandex nicht nur als erfolgreiches Unternehmen zur Finanzierung des russischen Staats beitrage, sondern dessen Politik auch informationell unterstütze. Mitte März 2024 wurden die Sanktionen gegen Wolosch aufgehoben, wofür auch sein angekündigter Bruch mit Russland ausschlaggebend gewesen sein dürfte.
Verkauf unter Wert
Bei den russischen Käufern des Kerngeschäfts handelt es sich um ein Konsortium eher unbekannter privater Investoren sowie den ebenfalls privaten Ölkonzern Lukoil. Die neuen Eigentümer verpflichten sich, ihre Anteile mindestens ein Jahr lang nicht weiterzuverkaufen, wie aus der Beschlussvorlage für die Aktionäre hervorgeht.

Mit 475 Mrd. Rubel bzw. rund 5,1 Mrd. US-Dollar beträgt der Preis nur einen Bruchteil des einstigen Werts von Yandex. Das ist einerseits dem Preisabschlag von mindestens 50% zum Marktwert geschuldet, den die russische Regierung seit 2022 von ausländischen Unternehmen verlangt, die das Land verlassen wollen.

Andererseits hat sich der einstige Börsenstar noch nicht vom Einbruch im Frühjahr 2022 erholt. Im Vorkrisenherbst 2021 hatte sich die Marktkapitalisierung von Yandex 30 Mrd. Dollar genähert und sein Aktienkurs den bisher höchsten Stand von fast 83 Dollar erreicht. Bei ihrem Debüt an der New Yorker Tech-Börse Nasdaq im Jahr 2011 kostete die Aktie 35 Dollar. Aktuell notiert sie an der Moskauer Börse, wo sie noch gehandelt wird, bei etwa 4000 Rubel. Das entspricht rund 40 Euro bzw. 43 Dollar.
Staatliches Vetorecht
Der Yandex-Börsengang war damals der größte des Tech-Sektors seit Google 2004. Die Russen nahmen mit ihm 1,3 Mrd. Dollar ein. Fast neun von zehn Yandex-Aktien befanden sich seitdem in Streubesitz, wobei westliche Anleger stark vertreten waren. Schon davor hatte die russische Politik befürchtet, das Ausland könne zu sehr Einfluss auf „strategische“ Unternehmen erhalten, zu denen etwa der damalige Präsident Dmitrij Medwedew 2009 auch Yandex zählte. Als Konsequenz übergab das Unternehmen eine sogenannte „goldene Aktie“ an die staatlich kontrollierte Sberbank. Damit erhielt der Staat u. a. ein Vetorecht bei Verkäufen von wichtigen Geschäftsbereichen oder falls ein Aktionär seine Anteile auf mehr als 25% steigern wollte. 2019 gab Sberbank die goldene Aktie an Yandex zurück. Der Staat hatte inzwischen andere Wege der Kontrolle über das Unternehmen gefunden.

Gute Geschäftszahlen
An den Geschäftszahlen dürfte es nicht gelegen haben, dass sich der Marktwert von Yandex seit seinem Höhepunkt halbiert hat. Mitten im größten Umbruch seiner fast 25-jährigen Geschichte legte Yandex im Februar 2024 starke Jahreszahlen vor. Die Erlöse machten 2023 einen Sprung um 53% auf 800 Mrd. Rubel, rund 8 Mrd. Euro. Gegenüber 2021 stellte dies mehr als eine Verdoppelung dar, wenn man in Rubel rechnet. Für das Vorkrisenjahr hatte Yandex 362 Mrd. Rubel Erlöse gemeldet, was damals rund 4,3 Mrd. Euro entsprach. Auch die Gewinne entwickelten sich zuletzt positiv. Yandex meldete für 2023 einen Anstieg der angepassten Reingewinne um 155% von 10,8 Mrd. auf 27,4 Mrd. Rubel (2,8 Mrd. Euro). 2021 waren es nur 8 Mrd. Rubel. Ohne die Anpassung der Gewinne etwa um einmalige Ausgaben hatte der Konzern damals sogar einen Verlust von 14,7 Mrd. Rubel eingefahren. Im Folgejahr betrug der Reingewinn 47,6 Mrd. und auch im vergangenen Jahr blieb die Bilanz mit 21,8 Mrd. Rubel (2,2 Mrd. Euro) im Plus.
Diese nackten Zahlen lassen kaum erahnen, welche Bedeutung Yandex für Russlands Wirtschaft und seine moderne Gesellschaft insgesamt zukommt. Der anerkennende Vergleich mit Google unterschätze diesen Stellenwert eher, urteilt etwa das angesehene US-amerikanische Technologie-Magazin Wired. Yandex sei in Russland nicht nur Google, sondern auch Uber, Spotify und Amazon zusammen, schreibt das Blatt.

Sieg über Google
Mit Google verbindet Yandex sein Ursprung als Internetsuchmaschine. Während sich in westlichen Ländern die lokalen Anbieter dem US-Konzern geschlagen geben mussten, beherrschte Yandex praktisch von Anfang an den russischen Markt. Dafür führte Google in Russland lange ein Nischendasein. So hielt Yandex schon kurz nach seiner Gründung im Jahr 2000 mehr als 54% des russischen Markts für Internetsuchen, wie eine Studie von 2002 ermittelte. Auf Google entfielen damals gerade mal 1,4%. Größter Yandex-Konkurrent war damals mit 35% Rambler, das als „russisches Yahoo“ galt. Wie das US-Vorbild spielt Rambler heute keine Rolle mehr bei der Internetsuche.

Google erkannte schon früh das Potenzial von Yandex. 2003 reisten seine beiden Gründer Sergey Brin und Larry Page nach Moskau, um die Übernahme des russischen Konkurrenten zu verhandeln. Doch die beiden Yandex-Gründer Arkadij Wolosch und Ilja Segalowitsch lehnten das Angebot in Höhe von 100 Mio. Dollar ab.
Seitdem schien Google kurz davor, sich auch in Russland durchzusetzen. Vor einigen Jahren eroberten die Amerikaner bereits fast 40% des russischen Such-Markts, so die Statistik von Yandex selbst. Der letztliche „Sieg über Google“ sei nicht nur dem Rückzug des großen Konkurrenten aus Russland zu verdanken, bemerkte vor kurzem der Chef der Yandex-Suche, Dmitrij Masjuk. Es handle sich um einen Erfolg im freien Wettbewerb, wovon auch das Verhalten der iPhone-Nutzer in Russland zeuge. Seit vergangenem Jahr verwende mehr als jeder zweite die Yandex-Suche, obwohl die Apple-Geräte ab Werk auf Google eingestellt seien, so Masjuk. Tatsächlich konnte Yandex seit 2022 seine Vormachtstellung ausbauen. Im 1. Quartal des laufenden Jahres wählten Internetnutzer in Russland in 64,5% der Fälle den Suchdienst von Yandex, eine Steigerung um 3,5 Prozentpunkte zum Vergleichsquartal 2022. Google verlor im Runet im gleichen Zeitraum 2,7 Prozentpunkte auf 35,1%.

Breiter aufgestellt
Im Vergleich zu Google ist Yandex weniger abhängig von den Werbeeinnahmen, die wie bei dem US-Pendant hauptsächlich aus der Internetsuche stammen. Bei Google steuerte dieser Kernbereich im vergangenen Jahr 57% der mehr als 307 Mrd. US-Dollar Erlöse bei. Bei Yandex entfielen zuletzt etwas mehr als ein Drittel der Erlöse auf die Suche. Die beiden Geschäftsbereiche Mobilität und Internethandel kamen 2023 zusammengenommen auf einen Anteil von 37% an den Gesamterlösen von Yandex, gegenüber 36% bei der Suche. 2021 lag sie noch bei mehr als 45%. In Zukunft dürfte sich der Schwerpunkt des Unternehmens weiter verschieben. Während die Erlöse in Mobilität und E-Commerce zusammen um 61% zum Vorjahr zulegten, fiel das Wachstum bei der Suche mit 49% unterdurchschnittlich aus.
Die Sparte E-Commerce besteht vor allem aus Yandex.Market, dem nach Umsatz drittgrößten Onlinehändler Russlands. Der Abstand von Yandex zu den beiden Marktführern Ozon und vor allem Wildberries, dem eigentlichen russischen Amazon, ist jedoch riesig. Das andere Schwergewicht im Konzern ist Yandex.Taxi, der größte russische Taxi-Aggregator. Vor allem in Moskau hat sich Yandex in diesem Bereich praktisch eine Monopolstellung erarbeitet, u. a. durch die Übernahme lokaler Konkurrenz wie dem Russlandgeschäft von Uber. Experten schätzen seinen Marktanteil in Moskau auf mehr als 96%.

Expansion im Ausland
Auch nach der Trennung vom „internationalen Yandex“ bleibt der russische Internetkonzern im Ausland aktiv. Auf den Auslandsmärkten erreichen die Russen mit ihrer Onlinewerbung beinahe 15 Mio. Menschen täglich, wie Daten des Unternehmens zu Januar 2024 belegen. Vor einem Jahr waren es noch 10 Mio. Menschen pro Tag. Im Fokus stehen vor allem die Türkei und der Nahe Osten sowie Vietnam, Thailand und Indonesien. Zuletzt nahmen die Russen verstärkt auch Mittel- und Südamerika ins Visier. So sucht Yandex zurzeit nach Mitarbeitern für seine Tochter in Mexiko, von wo aus der Kontinent mit Werbung versorgt werden soll. In den Nachbarländern Belarus und Kasachstan, wo Yandex ohnehin stark vertreten ist, vergrößerte sich das Zielpublikum ebenfalls um rund 50% auf 10,4 Mio. bzw. 13,7 Mio. Menschen. In Russland betrug der Zuwachs 14% auf 88,2 Mio. Menschen.