Fokusanalyse

Bauindustrie in Russland

Die russische Bauindustrie wächst seit 2018 kontinuierlich. Inflationsbereinigt, also unter Berücksichtigung der steigenden Preise, lag der Umsatz im Baugewerbe 2023 laut der Statistikbehörde Rosstat um 38% höher als 2017. Selbst 2020, im ersten Corona-Jahr, hatte es in der Branche keinen Einbruch gegeben: Sie erreichte damals ein Umsatzwachstum von 2,1%, obwohl die Gesamtwirtschaft um 2,7% schrumpfte. Im Jahr 2022 erzielte das Baugewerbe 7,5% mehr Umsatz als 2021, trotz des Rückgangs des russischen Bruttoinlandsproduktes um 1,2%. Im vergangenen Jahr expandierte die Baubranche mit 7,9% abermals schneller als die Gesamtwirtschaft (+3,6%).
Die regionale Verteilung der Umsätze sowie die unterschiedliche Dynamik in den Regionen geben Aufschluss darüber, welche Faktoren das Baugewerbe zuletzt angetrieben haben. Die größten Zuwächse verzeichneten 2023 die föderalen Bezirke Ferner Osten (+19%) und Wolga (+16%). In Sibirien gingen sie um 7% zurück und im Ural gab es eine Stagnation. Im Rest der föderalen Bezirke (Zentrum, Nordwesten, Süden und Nordkaukasus) bewegten sich die Indizes zwischen +2% und +9%.

Dies spiegelt die aktuellen Prioritäten des Staates in puncto Infrastrukturinvestitionen wider. Vorangetrieben wird der Ausbau der zwei Eisenbahnmagistralen im Osten: der Baikal-Amur-Magistrale und der Transsib, die vor dem Hintergrund der größtenteils erfolgten Umorientierung der Handelsströme nach Asien immer bedeutender werden. Gegenwärtig können auf ihnen bis zu 173 Millionen Tonnen Güter pro Jahr transportiert werden, bis 2030 soll die Kapazität weiter auf 210 Mio. Tonnen steigen. Für die überdurchschnittlich hohe Dynamik im fernöstlichen föderalen Bezirk verantwortlich sind auch die Erschließung neuer Erdgas- und Kohlevorkommen in der Teilrepublik Jakutien sowie der fortschreitende Bau der größten Gasaufbereitungsanlage Russlands von Gazprom und des größten Grundpolymer-Werkes von Sibur im Gebiet Amur.
In der Wolga-Region trug 2023 die Errichtung der 811 Kilometer langen Mautstraße M12 („Wostok“, zu deutsch „Osten“) zwischen Moskau und Kasan entscheidend zur positiven Dynamik im Bausektor bei. Diese wurde im Dezember für den Verkehr freigegeben. Zurzeit befindet sich der Verlängerungs-abschnitt zwischen Kasan und Jekaterinburg im Bau, der ebenfalls ca. 800 Kilometer lang ist und durch die Teilrepubliken Tatarstan und Baschkortostan sowie die Region Perm und das Gebiet Swerdlowsk verläuft. Diese Verlängerung soll nach Plan noch im laufenden Jahr sowie eine weitere Verlängerung von Jekaterinburg nach Tjumen (ca. 330 Kilometer) bis Ende 2025 fertig sein.

Moskau mit höchstem Umsatz
Im regionalen Vergleich wurde 2023 wie in den Vorjahren der höchste Bauumsatz in Moskau verzeichnet: insgesamt 1,9 Bio. Rubel, umgerechnet 20,4 Mrd. Euro. Somit entfielen 12% des gesamtrussischen Umsatzes der Bauindustrie auf die Hauptstadt, die weiter in hohem Tempo Straßen, U- und S-Bahn-Stationen, Kliniken und andere öffentliche Infrastrukturen baut und modernisiert. Tatarstan und das Gebiet Moskau folgten mit 708 sowie 680 Mrd. Rubel (7,7 bzw. 7,4 Mrd. Euro) auf den Plätzen zwei und drei. Die zweitgrößte russische Stadt St. Petersburg (578 Mrd. Rubel, oder 6,3 Mrd. Euro) und der rohstoffreiche autonome Kreis der Jamal-Nenzen im Nordwesten Sibiriens (559 Mrd. Rubel oder 6,1 Mrd. Euro) belegten die Plätze vier und fünf.

Der Wohnungsbau wuchs 2023 nach Rosstat-Angaben nur unwesentlich langsamer als der Bausektor insgesamt, und zwar um 7,5%. Im vergangenen Jahr wurde so viel Wohnraum geschaffen wie noch nie: 110,4 Mio. Quadratmeter, nach 102,7 Mio. Quadratmeter 2022. Im Vergleich zu 2021 wurden 2023 um 19% mehr Wohnungen fertiggestellt. Seit 2019 ist der Wert um 35% und seit dem Vorsanktionsjahr 2013 um 57% gewachsen.
Einfamilienhäuser einschließlich der Häuser auf Datschengrundstücken stellten im zurückliegenden Jahr 53% des Bauvolumens (58,7 Mio. Quadratmeter, +3% zu 2022). Der Rest waren meist vielgeschossige Wohnblöcke (51,7 Mio. Quadratmeter, +14%). 2023 gestartete anteilig finanzierte Bauprojekte schaffen 49,4 Mio. Quadratmeter Wohnraum, erklärte der stellvertretende Bauminister Nikita Stasischin im Januar. Dieser Wert sei um 21% höher als im Vorjahr. Dem Informationssystem Wohnungsbau (EISZhS) des staatlichen Hypothekenbetreibers Dom.rf ist zu entnehmen, dass sich in Russland aktuell insgesamt 114,6 Mio. Quadratmeter Wohnungen im Bau befinden.

Der Einfamilienhausbereich hatte sich zwischen 2017 und 2022 dynamischer entwickelt als der Bau größerer Wohnanlagen. In den Corona-Jahren 2020 und 2021 war die Nachfrage nach einem Zuhause im Grünen besonders stark. 2023 wendete sich der Trend: Es wurden 14% mehr Neubauwohnungen, aber nur 3% mehr Einfamilienhäuser fertiggestellt. Zum Hauptgrund für diese Trendumkehr merkte Vize-Minister Stasischin an: „Wir beobachten gerade eine Tendenz zu einer ausgewogenen Entwicklung des Wohnungsbaus. Denn 2023 gab es vor allem in denjenigen Regionen Russlands mehr Projektstarts, die nicht zu den Top 10 in Bezug auf das Wohnungsbauvolumen gehören. Moderne, komfortable Wohnungen entstehen derzeit im ganzen Land.“

Amestie für Datschenbesitzer
Die Hochkonjunktur, die im vorvergangenen Jahr im Einfamiliensegment zu beobachten war, führen Analytiker der führenden Moskauer Online-Plattform für Immobilien CIAN unter anderem auf die im Juli 2022 ausgeweitete „Datschenamnestie“ zurück. Dabei handelt es sich um ein vereinfachtes Verfahren zur Überführung von Sommer- und Gartenhäusern und dazugehörigen Grundstücken ins Eigentum. In Verbindung mit der Möglichkeit eines seit Juni 2021 staatlich subventionierten Erdgasanschlusses für Eigentumshäuser stieß die „Datschenamnestie“ bei Einwohnern großer russischer Städte auf starkes Interesse.

Im Gebiet Moskau beispielsweise wurde laut Rosstat 53% mehr Wohnraum geschaffen als im Vorjahr. Im Gebiet Wladimir gab es eine Zunahme um 43%, im Gebiet Twer um 30%. 2023 war das Wachstum viel gleichmäßiger verteilt und meist in Regionen mit einer Spezialisierung auf das verarbeitende Gewerbe am ausgeprägtesten, zum Beispiel in Iwanowo, Kaluga, Tula oder Wolgograd. Diese gehören nicht zu den wirtschafts- und bevölkerungsstärksten Ballungsgebieten Russlands, haben aber zuletzt von steigenden Reallöhnen profitiert, was sich positiv auf die Kaufkraft der Bevölkerung auswirkt. Die Lohnerhöhungen waren 2023 gerade in den Regionen mit vielen Rüstungs- und Maschinenbaubetrieben am ausgeprägtesten.

Der Wohnungsboom wird durch Vorzugsdarlehen für Neubauwohnungen angeheizt, die zu einem jährlichen Zinssatz von 6% angeboten werden. Die Höhe eines solchen Wohnungskredits darf bei maximal sechs Millionen Rubel liegen, umgerechnet 63.000 Euro. In Moskau und St. Petersburg sowie in deren Umland, in dem die meisten Wohnimmobilien teurer sind, gilt eine zweimal höhere Obergrenze. Das entsprechende Förderprogramm gilt vorerst bis zum 1. Juli 2024, könnte aber, wie von Präsident Putin im Februar angeregt, bis 2030 verlängert werden.
Das größte Problem für die russische Bauindustrie dürfte derzeit das Arbeitskräftedefizit sein. Da es sich um eine arbeitsintensive Branche handelt, ist dieses im Bau besonders akut. Dem ersten stellvertretenden Bauminister Alexander Lomakin zufolge waren Ende Oktober 2023 ca. 800.000 Wanderarbeiter, oder 8% aller Erwerbspersonen im Bausektor, auf Baustellen in Russland tätig. Unbesetzt blieben im vergangenen Herbst ca. 200.000 Stellen. Der Arbeitskräftemangel werde demnächst aber noch stärker zu spüren sein, warnte Lomakin.

Alexej Sacharow, der Präsident des Stellenportals Superjob.ru, führt die angespannte Personallage der Baubetriebe unter anderem auf deren niedrige Arbeitsproduktivität zurück. Sie hätten über zwei Jahrzehnte auf Migranten gesetzt und zu wenig in neue Technik investiert, moniert der Experte.

Quellen: Rosstat 1, 2, 3, 4, 5, Kremlin, RIA Novosti, Kommersant (alle RU)