Fokusanalyse

Russischer Strommarkt: Rekordverbrauch und Exporteinbruch

Der Stromverbrauch in Russland eilt von Rekord zu Rekord. Insbesondere seit 2015 ist er – mit Ausnahme des Pandemiejahrs 2020 – stetig gestiegen. Nach Angaben des russischen Verbundnetz-Betreibers SO UPS legte der Verbrauch in diesem Zeitraum von 1008 Mrd. Kilowattstunden (kWh) auf 1122 Mrd. kWh im vergangenen Jahr zu. Zuletzt betrug die Steigerung zum Vorjahr 1,4%, nachdem der Verbrauch auch 2022 um 1,5% zugelegt hatte, ungeachtet einer um 1,2% geschrumpften Wirtschaftsleistung.

Zur Einordnung: 1991, unmittelbar nach Ende der Sowjetunion, verbrauchte Russland etwas über 1000 Mrd. kWh. Den tiefsten Stand markierten seitdem 778 Mrd. kWh im Krisenjahr 1998. In Deutschland betrug der Stromverbrauch 2023 laut dem Umweltbundesamt 529 Mrd. kWh, womit beinahe wieder der Tiefststand von 1993 (528 Mrd. kWh) erreicht wurde. Der Rekordverbrauch des wiedervereinigten Deutschlands waren 624 Mrd. kWh im Jahr 2007.

Den neuen russischen Rekord erklären Experten u. a. mit dem kalten Winter und einer gestiegenen Nachfrage seitens der Industrie, deren Produktion 2023 stark zunahm. So stieg der Stromverbrauch im Maschinenbau um 9,5%, belegen Daten des Verbundnetzes. In der Chemieindustrie und der Ölverarbeitung betrug das Plus 5,2% und bei den Rechenzentren sogar 60%.

Auch Stromproduktion steigt
Die Statistik von SO UPS bezieht sich nur auf das zusammenhängende russische Stromnetz, zu dem eine Handvoll Regionen im Fernen Osten keine Verbindung haben. Zudem liefert der Verbundnetz-Betreiber explizit nur Daten für das russische Staatsgebiet in seinen Grenzen von 2021. Demzufolge belief sich die Stromproduktion in Russland im vergangenen Jahr auf 1134 Mrd. kWh, was einen Anstieg um 1,1% zum Vorjahr bedeutete. 2022 betrug das Plus 0,6%. Die Produktion ist in den vergangenen beiden Jahren demnach langsamer gewachsen als der Verbrauch, was Experten mit dem Rückgang der Exporte erklären.
Den größten Anteil an der russischen Stromproduktion haben traditionell die Wärmekraftwerke. 2023 steuerten sie 62,8% des erzeugten Stromes bei. Befeuert werden sie überwiegend mit Erdgas, in geringerem Maße mit Kohle. Ihr Anteil am insgesamt erzeugten Strom bewegte sich in den vergangenen Jahren zwischen 12% und 14%, je nachdem, wie viel Wasser die großen sibirischen Flüsse führten. Laut SO UPS kommt die Kohle vor allem in Sibirien und im Fernen Osten als Back-up für die übrigen Kraftwerkstypen, insbesondere die Wasserkraft, zum Einsatz.

Die anderen beiden großen Stromquellen in Russland sind Atom- und Wasserkraft, auf die im vergangenen Jahr 19,2% bzw. 17,2% der produzierten Menge entfielen. 2019 war die Verteilung ähnlich: 62,8% Wärmekraft, 19,1% Atomkraft und 18,1% Wasserkraft. Der Beitrag von Wind und Sonne hat sich seitdem vervielfacht, allerdings auf niedrigem Niveau. 2019 erzeugte Russland aus diesen beiden erneuerbaren Energiequellen 1,6 Mrd. kWh Strom bzw. rund 0,15% seiner Gesamtproduktion. Im vergangenen Jahr waren es 9 Mrd. kWh bzw. 0,8%.

Ausbau der Kapazitäten
Die Anteile der Kraftwerkstypen am erzeugten Strom unterscheiden sich von der sogenannten installierten Leistung, also den vorhandenen Kapazitäten zur Stromerzeugung. Auf Wärme- und Wasserkraft sowie Wind und Sonne entfielen zum Stichtag 1. Januar 2024 jeweils 66%, 20,2% und 1,9% der installierten Gesamtkapazität. Bei der Atomkraft lag der Kapazitäts-Anteil mit 11,9% weit unter ihrem Beitrag zur Stromproduktion (19,2%). Grund ist die hohe Energieausbeute, der sogenannte Nutzungsgrad, der laut SO UPS bei der Atomkraft in Russland fast doppelt so hoch ist wie bei der Wärmekraft und rund viermal so hoch wie bei Wind und Sonne. Insgesamt verfügten die Kraftwerke im russischen Verbundnetz Anfang dieses Jahres über eine Kapazität von 248,2 Gigawatt (GW). Das waren 0,6 GW mehr als vor einem Jahr und 1,6 GW mehr als am 1. Januar 2022. Der Zuwachs der beiden Jahre bestand aus 0,692 GW Wind und Sonne, 0,615 GW Wärmekraft und 0,268 GW Wasserkraft.
Als Ganzes verfügt das russische Stromnetz über große Leistungsreserven. Die höchste je gemessene Verbrauchsspitze waren 168,8 GW am 8. Dezember 2023. Die Überkapazität der russischen Kraftwerke beträgt somit fast 80 GW. Einerseits sollen dadurch die Kraftwerksbetreiber in die Lage versetzt werden, wertvolle Ausrüstung zu schonen. Die staatliche Nachrichtenagentur TASS erwähnt in diesem Zusammenhang bestimmte Gasturbinen westlicher Bauart, auf die rund 20 GW Kapazität entfielen. Generell haben sich westliche Hersteller solcher leistungsstarken Turbinen, etwa Siemens Energy oder der US-Konzern General Electric, seit 2022 aus Russland zurückgezogen, was die Instandhaltung der Technik erschwert.

Andererseits trügt die auf dem Papier enorme Überkapazität, da Angebot und Nachfrage nicht gleichmäßig über das Land verteilt sind, wie der Vorstand des Netzbetreibers SO UPS, Fjodor Opadtschij, bemerkt. Für Teile Südrusslands und Sibiriens sei eine Unterversorgung mit Strom innerhalb einiger Jahre vorhersehbar, so Opadtschij. Im Süden lassen vor allem die wachsende Bevölkerung und die boomende Landwirtschaft die Nachfrage steigen, erklären Experten. In Sibirien und im Osten des Landes seien es die Industrie im Besonderen und die wirtschaftliche Wende des Landes nach Asien im Allgemeinen. So baut die Staatsbahn RZD zurzeit das Schienennetz in der Region massiv aus, um den wachsenden Güterverkehr bewältigen zu können.

Exporte brechen ein
Wegen der hohen Stromnachfrage im russischen Fernen Osten musste der für den Export zuständige Monopolist Inter RAO seine Lieferungen nach China stark einschränken. Ab August 2023 brachen die Exporte um rund die Hälfte ein, im Herbst sogar um drei Viertel. Insgesamt exportierte Russland im vergangenen Jahr 3,1 Mrd. kWh nach China, nach 4,7 Mrd. im Vorjahr. Die Stromexporte insgesamt gingen von 13,6 Mrd. auf 10,7 Mrd. kWh zurück, so Inter RAO. Größter Abnehmer war Kasachstan mit 4,7 Mrd. kWh, die Mongolei bezog 0,9 Mrd. kWh, zu den übrigen Kunden gehörten die Türkei, Georgien und Aserbaidschan.
2021 exportierte Russland noch 22,9 Mrd. kWh Strom und nahm damit mehr als 1,3 Mrd. Euro ein. Wichtigster Kunde war die EU, wo Finnland und das Baltikum russischen Strom kauften. Das Statistikamt Eurostat beziffert den Wert dieser Importe 2021 auf 516,5 Mio. Euro und in den ersten zehn Monaten 2022 auf 968,5 Mio. Euro. Seit vergangenem Jahr sind die Lieferungen in die EU zum Erliegen gekommen, berichtet Inter RAO. Dies sei auch der Grund für den Rückgang der russischen Exporte 2023. Zu den Exporterlösen macht der Konzern seit 2022 keine Angaben mehr.

Strompreise steigen nur langsam
Die Strompreise für Unternehmen in Russland sind in den vergangenen Jahren langsamer gestiegen als die allgemeine Inflation. Der Branchenverband SPE betont, dass sich der Strom seit 2020 um 21,1% verteuert habe, während Verbraucherpreise in diesem Zeitraum um 36,7% zulegten. Im vergangenen Jahr stieg der Strompreis für die Industrie im europäischen Teil des Verbundnetzes um 5,6% auf 2780 Rubel pro Megawattstunde (MWh) und im sibirischen Teil um 7,9% auf 2320 Rubel pro MWh. Das entspricht rund 2,8 bzw. 2,4 Eurocent pro kWh. Im landesweiten Schnitt stiegen die Preise um 6%, was unter der Inflationsrate 2023 von 7,4% lag. Dass die Strompreise nicht mit den inflationsbedingten Kosten mithielten, sieht die Aufsichtsbehörde für den Strommarkt „Sowjet rynka“ mit Sorge. Der Umstand deute auf eine Unterfinanzierung des Ausbaus der Kraftwerkskapazitäten hin, so das Urteil.

Unternehmen subventionieren Privatverbrauch
Während sich Großhandelspreise für die Industrie am Markt bilden, bestimmt über die Strompreise für die Bevölkerung der Staat. Sie sind von Region zu Region verschieden und in der Regel niedriger als die Großhandelspreise. Der Stromverbrauch der Bevölkerung stieg im vergangenen Jahr um 2,6%, also fast doppelt so stark wie der Verbrauch insgesamt (+1,4%), an dem die Bürger einen Anteil von 16,5% hatten. Die russischen Endverbraucherpreise werden durch die Unternehmen quersubventioniert. Sie müssen dafür einen Aufschlag auf den Strompreis bezahlen, dessen Höhe sich an den Kosten für die Instandhaltung des Stromnetzes bzw. an den Umsätzen der dafür zuständigen Dienstleister orientiert. Laut der Moskauer Wirtschaftsuniversität Higher School of Economics ist das Volumen dieser Quersubventionen 2023 von rund 250 Mrd. auf 294 Mrd. Rubel (3 Mrd. Euro) gestiegen. Für das laufende Jahr sagen die Analysten einen weiteren Anstieg um 2,3% voraus. Ende 2023 beschloss die Regierung eine Staffelung der Preise für Endabnehmer nach Höhe des Verbrauchs. Im Gespräch ist zudem eine Deckelung des subventionierten Privatverbrauchs, um den Stromhunger der Bevölkerung zu zügeln.

Quellen: SO UPS, InfoTEK, Kommersant 1, 2, 3, 4, 5, TAdviser, TASS, Vedomosti (alle RU), Umweltbundesamt