Fokusanalyse

Russische Milliardäre 2024

Heute gibt es mehr russische Dollarmilliardäre als jemals zuvor, meldete Anfang April die russische Ausgabe des Forbes-Magazins. Mit 125 Personen waren es zwei mehr als der bisherige Rekord aus dem Jahr 2021.

Die Angabe beruht auf dem Milliardärsbericht 2024, den das amerikanische Forbes unlängst veröffentlichte. Dort ist nur von 120 russischen Milliardären die Rede, weil seine Autoren doppelte Staatsbürgerschaften anders einordnen. So vertritt etwa der Telegram-Gründer Pavel Durov in der US-Liste seine Wahlheimat Vereinigte Arabische Emirate, während Forbes Russia ihn als russischen Milliardär führt.
Tatsächlich wäre der neue Rekord noch beeindruckender ausgefallen, hätten seit 2022 nicht mindestens zehn Milliardäre ihre russische Staatsbürgerschaft abgelegt. Zum Beispiel gehörte der Metallurgie-Investor Wasilij Anisimow im vergangenen Jahr noch zu den damals 110 russischen Milliardären, heute ist er mit 1,7 Mrd. Dollar der einzige Kroate im Forbes-Ranking. Die bekanntesten Ex-Russen unter den Superreichen sind der Technologie-Investor Yuri Milner (5,9 Mrd. Dollar, Bürger Israels), die beiden Fintech-Gründer Timur Turlow (3,3 Mrd. Dollar, Kasachstan) und Nikolaj Storonskij (2,7 Mrd. Dollar, Großbritannien) sowie der ehemalige russische Banker Ruben Wardanjan (1,1 Mrd. Dollar, Armenien).

Milliardärs-Ranking aus China
Eine alternative Zählung liefert der in China lebende Brite Rupert Hoogewerf mit der Hurun Rich List. Sie enthält aktuell 3279 Milliardäre, von denen 76 als russische Vertreter gelten (2,3%). Im Unterschied zu Forbes berücksichtigt Hurun nicht die Staatsangehörigkeit, sondern den Wohnsitz („country of residence“).
Gegenüber dem Vorjahr gewann Russland sechs Milliardäre hinzu, obwohl seitdem der Rubel gegenüber dem Dollar 21% an Wert verloren habe, wie Hurun hervorhebt. Im selben Zeitraum habe jedoch der in Rubel notierte russische Börsenindex MOEX 44% zugelegt. Insbesondere für die russische Energie- und Rohstoffbranche sei 2023 ein gutes Jahr gewesen. Zum Vergleich: Im Hurun-Report 2017 hatte Russland zum Vorjahr zwölf Milliardäre eingebüßt, was Hurun auf eine Abwertung des Rubel im Vorjahr um 30% zurückführte. Auf Russland entfielen damals 68 von weltweit 2257 Milliardären (3%).

Wachstum dank Börsenboom
Die Vermögen der Superreichen bestehen gewiss aus mehr als Aktien. Bei den von Forbes allein berücksichtigten Privatpersonen fallen sie jedoch besonders stark ins Gewicht. So folgen die Schwankungen der Vermögen in der Regel dem Auf und Ab an den Börsen. 2023 war für die Wall Street ein gutes Jahr, mit einem Anstieg des Dow Jones um fast 14%, wobei ein Großteil des Zuwachses auf die Technologie-Schwergewichte wie Nvidia, Amazon und Tesla entfiel. Das führte zu Vermögenssprüngen bei ihren Großaktionären Jensen Huang, Jeff Bezos und Elon Musk um 30, 65 und sogar 113 Mrd. Dollar.

Obwohl die nominalen Kurswerte an den russischen Börsen 2023 um mehr als 40% stiegen, belief sich der Zuwachs des notierten Börsenindex RTS wegen des schwachen Rubels nur auf knapp 10%. Das Gesamtvermögen der russischen Forbes-Milliardäre erhöhte sich um 14,3% auf 577 Mrd. Dollar, wie die russische Ausgabe des Magazins errechnete.
Der bisherige Rekord stammt aus 2021 und belief sich auf 606 Mrd. Dollar. Das Vermögen aller Milliardäre der Welt hat das Vorkrisenniveau hingegen übertroffen. Es stieg im vergangenen Jahr um 16,4% auf den Rekordwert von 14,2 Bio. Dollar. 2021 waren es noch 13,1 Bio. Dollar.

Neue Milliardäre
19 Russen sind erstmals in den Kreis der Milliardäre aufgestiegen. Unter den Newcomern sticht Iwan Tawrin hervor, der Gründer der Beteiligungsgesellschaft Kismet Capital Group. Er kam auf ein Vermögen von 2,4 Mrd. Dollar und landete damit auf Anhieb auf dem 60. Platz unter Russlands Superreichen. Sein wichtigster Vermögensposten ist das größte russische Kleinanzeigenportal Avito, das Kismet im Herbst 2022 dem südafrikanischen Medienkonzern Naspers für 2,4 Mrd. Dollar abkaufte. Im Frühjahr 2023 war Kismet außerdem Teil des Käuferkonsortiums für das Russlandgeschäft von Henkel. Die nach Tawrin reichsten neuen Milliardäre sind Waldislaw Filew (1,9 Mrd. Dollar), Gründer der Fluggesellschaft S7, Wladimir Fartuschnjak (1,8 Mrd. Dollar), Mitgründer der Sportartikel-Handelskette Sportmaster und des Modehändlers Ostin, Wladimir Melnikow (1,7 Mrd. Dollar), Gründer und Eigentümer des Modekonzerns Gloria Jeans, sowie Igor Khudokormow (1,7 Mrd. Dollar), Hauptaktionär des größten russischen Zuckerproduzenten Prodimex. Weitere neue Milliardäre rekrutieren sich zum Beispiel aus den Branchen Einzelhandel, Wohnungsbau, Elektronikhandel und Logistik.

Reichste Russen
Größter Gewinner unter den russischen Milliardären war laut Forbes Wagit Alekperow, dem 30% der Aktien von Lukoil gehören. Das Wirtschaftsmagazin Bloomberg schätzt, dass Alekperow allein durch die Dividendenausschüttung um 5 Mrd. Dollar reicher geworden ist. Zudem hat sich der Aktienkurs des größten privaten Ölkonzerns in Russland im vergangenen Jahr in etwa verdoppelt. Alles in allem vermehrte sich Alekperows Vermögen laut Forbes um 8,1 Mrd. auf 28,6 Mrd. Dollar. Damit ist er aktuell die Nr. 1 der russischen Forbes-Liste. Der 1950 in Baku geborene Sohn eines aserbaidschanischen Ölarbeiters ist auch der einzige Russe auf der Liste, der bereits in den Neunzigerjahren als Milliardär galt. So führte ihn Forbes 1997 als drittreichsten Russen, wobei er schon damals sein auf 1,4 Mrd. Dollar geschätztes Vermögen Lukoil verdankte.
Die restliche Spitze des heutigen russischen Rankings baute erst im neuen Jahrtausend ihr Milliardenvermögen auf, das sich hauptsächlich aus Anteilen an Öl-, Gas- und Metallproduzenten zusammensetzt. Nummer zwei der Liste ist Novatek-CEO Leonid Michelson (27,4 Mrd. Dollar). Ihm gehören rund ein Viertel der Aktien des größten privaten russischen Gasproduzenten, außerdem 31% am Chemiegiganten Sibur. Es folgt Wladimir Lisin (26,6 Mrd. Dollar), dem 79% des von ihm geführten Stahlriesen NLMK gehören. Die übrigen Schwergewichte laut Forbes sind Alexej Mordaschow (25,5 Mrd. Dollar), der 77% der Aktien des Stahlproduzenten Severstal hält, Wladimir Potanin (23,7 Mrd. Dollar), CEO und Eigentümer von 37% des größten Nickelproduzenten der Welt Nornickel, sowie Gennadij Timtschenko (23,4 Mrd. Dollar), der ähnlich wie Michelson zu rund ein Viertel bzw. 15 Prozent an Novatek und Sibur beteiligt ist. Dennoch schätzt Bloomberg sein Vermögen aktuell nur auf 12,5 Mrd. Dollar, also etwas mehr als die Hälfte dessen, was Forbes ihm zuschreibt. Grund dafür seien „Risikoabschläge“ angesichts der westlichen Sanktionen. Auch bei Potanin weichen die Angaben der beiden US-Magazine erheblich voneinander ab. Laut Bloomberg ist er mit Stand von Anfang Mai mit 31,4 Mrd. Dollar der reichste Russe.

Nach dem 24. Februar 2022 verhängten westliche Länder Sanktionen gegen 39 russische Milliardäre, berichtete vor einem Jahr Forbes. Elf weitere hatten bereits zuvor auf mindestens einer Sanktionsliste gestanden. Viele von ihnen klagen gegen die Sanktionen, einige mit Teilerfolgen, wie die Alfa-Bank-Gründer Pjotr Awen und Michail Fridman. Wenige erreichten eine vollständige Aufhebung der Sanktionen, wie es z. B. Yandex-Mitgründer Arkadij Wolosch dieses Frühjahr gelang. Dessen ungeachtet haben die Sanktionen den russischen Milliardären nicht besonders geschadet, wie Forbes bereits vor einem Jahr feststellte. Einige hätten unter dem Strich sogar profitiert, etwa von der wirtschaftlichen Erholung in Russland und von den gestiegenen Rohstoffpreisen. Im vergangenen Jahr hat sich dieser Trend nur noch verstärkt, wie auch das neue Forbes-Ranking zeigt.

Originale Oligarchen
Sie und einige weitere russische Superreiche werden häufig als „Oligarchen“ bezeichnet, womit ursprünglich ihr großer Einfluss auf Politik und Gesellschaft ausgedrückt werden sollte. Paradigmatisch war ihre kolportierte Rolle bei der Wiederwahl von Boris Jelzin als Präsident Russlands im Jahr 1996. Demnach unterstützten einige Superreiche ihn im Wahlkampf gegen den Kommunisten Gennadij Sjuganow entscheidend, nachdem sie ehemalige Staatsunternehmen zu Schnäppchenpreisen übernommen hatten.
Unter Jelzins Nachfolger Wladimir Putin verloren die „originalen Oligarchen“ um Boris Beresowskij und Wladimir Gusinskij, die auch im Mediengeschäft mitspielten, stark an Einfluss, wie es die Nachrichtenagentur AP unlängst formulierte. Nach seiner ersten gewonnenen Wahl zum Präsidenten Russlands soll Putin im Frühjahr 2000 auf seiner Datscha eine Vereinbarung mit etwa zwei Dutzend Wirtschaftsbossen getroffen haben: „Ihr bleibt der Politik fern und wir stören euch nicht bei euren Geschäften.“

Zähmung der Superreichen
Ob es diesen sogenannten Schaschlik-Pakt tatsächlich gab, ist umstritten. Jedenfalls hat der Kreml im Laufe der Jahre die Großunternehmer gefügig gemacht, wie Forbes Russia im Jahr 2010 konstatierte. Das geschah nicht nur mit Zwang wie etwa gegen den ehemaligen CEO und Eigentümer des Ölkonzerns Yukos Michail Chodorkowski. Als er 2003 verhaftet wurde, galt er als der reichste Russe. Heute lebt er im Ausland und wird von den russischen Behörden als „ausländischer Agent“ eingestuft. Die Loyalität der Milliardäre gegenüber dem Kreml beruhte vor allem auf der Anerkennung ihrer Vermögen, die sie in den turbulenten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion meist unter dubiosen Umständen angehäuft hatten, wie die Ökonomin Alexandra Prokopenko anmerkt.

Heute ist der Begriff Oligarch häufiger in den USA anzutreffen. Die Parteijugend der US-Demokraten treibt einen Gesetzentwurf namens Oligarch Act voran, angesehene Verlage veröffentlichen Bücher über Ex-Präsident Donald Trump und seine Familie unter dem Titel „American Oligarchs“ und die Zeitschrift Mother Jones schreibt erst vor kurzem über den „Aufstieg der amerikanischen Oligarchie“. Im Stammblatt der Linksliberalen kommentiert der Politikwissenschaftler Jeffrey Winters, dass der Begriff seinen „russischen Anstrich“ eingebüßt hat.
Wohin Millionäre abwandern
In diesem Jahr wollen rund 128.000 Dollar-Millionäre ihrem jeweiligen Heimatland den Rücken kehren und in ein anderes Land ziehen, schätzt das Beratungsunternehmen Henley & Partners in seinem aktuellen Private Wealth Migration Report 2024. Das wären so viele wie noch nie. Henley & Partners untersucht die Migrationsbewegungen von Menschen weltweit, die über ein Vermögen von jeweils mehr als einer Million Dollar verfügen. 2023 hatten weltweit 120.000 Millionäre das Land gewechselt, in dem sie leben. Diese große Migration von Millionären zeuge von „tiefgreifenden Verschiebungen“ in puncto Reichtum und Macht, kommentieren die Forscher. Sie prognostizieren weitreichende Folgen sowohl für die Herkunfts- als auch für die Zuzugsländer der wohlhabenden Migranten.