Fokusanalyse

Prognosen für Sozialbereich 2024 in Russland

Vor zwei Wochen haben wir uns bereits mit den makroökonomischen Prognosezahlen für das Jahr 2024 auseinandergesetzt, die fünf russische KI-Systeme kurz vor der Jahreswende an das Wirtschaftsportal RBC geliefert hatten: Bruttoinlandsprodukt (BIP), Inflation, Leitzins, Rubelkurs und Ölpreis. Die RBC-Redaktion befragte die von der Sberbank und dem Mobilfunkanbieter MTS betriebenen neuronalen Netze GigaChat und MTS AI , das Daten-Analyse-System iFORA der Wirtschaftshochschule Moskau, die quelloffene KI-Anwendung ETNA des Finanzdienstleisters Tinkoff sowie die Wettervorhersage-Software Meteum des IT-Riesen Yandex zu makroökonomischen und sozialen Themen. Nachfolgend fassen wir die von den KI-Systemen gebotenen Daten zu den Entwicklungen im Sozialbereich zusammen.

MTS AI und ETNA stimmen darin überein, dass Russlands Bevölkerung in diesem Jahr weiter schrumpfen wird, weil weniger Kinder zur Welt kommen werden – laut ETNA ein Rückgang um 2–3%. MTS AI sagt voraus, dass die russische Bevölkerung 2024 um 5% schrumpfen könnte. Absolut würden also 7,3 Millionen weniger Menschen in Russland leben. Das neuronale Netz ist damit weit pessimistischer als die Statistikbehörde Rosstat, die von einem Bevölkerungsrückgang in diesem Jahr von maximal 0,4% bzw. 555.000 Menschen ausgeht.

Rosstats Basisszenario sieht vor, dass die Einwohnerzahl in Russland zum Jahresschluss um 0,3% bzw. 448.000 Menschen auf 145,6 Millionen sinken wird. Die Behörde rechnet mit einer deutlich negativen Geburtenbilanz (675.000 weniger Geburten als Sterbefälle), die durch 227.000 Eingewanderte teilweise ausgeglichen werden könnte. Im vergangenen Jahr nahm die russische Bevölkerungszahl nach vorläufiger Rosstat-Schätzung lediglich um 0,2% bzw. 244.000 Menschen auf 146,2 Millionen ab. Damit war der Rückgang um ein Drittel weniger stark als Rosstat im Herbst erwartet hatte.
Demografen warnen, dass die Bevölkerungsdynamik in Russland bis Ende des laufenden Jahrzehnts negativ bleiben wird. Das liegt vor allem daran, dass die von einer schweren Transformationskrise geprägte 1990er-Generation geburtenschwach war. Dass diese zurzeit in den Arbeitsmarkt eintritt, hat zur Folge, dass den Unternehmen zunehmend Arbeitskräfte fehlen. Erschwerend hinzu kommt, dass die Arbeitgeber seit vergangenem Jahr keinen Zugriff mehr auf Hunderttausende wehrpflichtige Männer haben. Zudem sind im Herbst 2022 einige Hunderttausende Hochqualifizierte ins Ausland abgewandert, von denen nicht alle nach Russland zurückgekehrt sind. Von denjenigen Russen, die im Ausland geblieben sind, sind immer weniger in russischen Unternehmen eingestellt.

Der leitende Forscher am Wirtschaftsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften, Nikolaj Achapkin, beziffert den Arbeitskräftemangel in Russland inzwischen auf knapp fünf Millionen Fachkräfte. Seine Schätzung basiert auf Angaben der Statistikbehörde Rosstat, wonach im Sommer vergangenen Jahres 6,8% der Stellen in russischen Unternehmen unbesetzt blieben. Ein Jahr zuvor waren 5,8% der Stellen vakant gewesen.

Der Fachkräftemangel beginnt das Wirtschaftswachstum in Russland zu bremsen. Wenn den Unternehmen Beschäftigte fehlten, könnten sie nicht in dem von einer wachsenden Wirtschaft nachgefragten Umfang Waren und Dienstleistungen herstellen. Das wirke sich negativ auf das Wachstumstempo der Wirtschaft aus, erklärt Alexander Safonow von der Finanzuniversität der russischen Regierung in Moskau. Wenn Güter knapp würden, schnellten die Preise unweigerlich in die Höhe.

Die Inflation wird zudem durch die Beschäftigtenknappheit selbst beschleunigt, weil sie sich in größerer Kaufkraft und steigenden Löhnen niederschlägt. Die von RBC befragten Netze GigaChat und MTS AI stellen für 2024 Lohnzuwächse in den meisten Wirtschaftszweigen in Aussicht, unter anderem in der IT-Branche, im verarbeitenden Gewerbe sowie im Gesundheits- und Bildungswesen. Diese Prognose deckt sich teilweise mit der Einschätzung von Arbeitsminister Anton Kotjakow, der das verarbeitende Gewerbe sowie die Bereiche Bau, Verkehr und Gesundheit zu den personalhungrigsten zählt.

Auch die von der russischen Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta befragten Experten stellen fest, dass Russland seine Arbeitskräftereserven praktisch erschöpft habe und sich der Fachkräftemangel verschärfe. Das zwinge die Unternehmen dazu, durch Gehaltserhöhungen, Prämien und Boni um Mitarbeitende zu werben, sagt etwa Pawel Selesnjow, Dekan der Fakultät für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Finanzuniversität der russischen Regierung. Für eine Entspannung des Lohnwettbewerbs in diesem Jahr sehe er keine Voraussetzungen.
Ljudmila Iwanowa-Shwez von der Plechanow-Wirtschaftsuniversität in Moskau erwartet, dass die Löhne im laufenden Jahr am stärksten im öffentlichen Sektor steigen könnten – nominal um bis zu 10% und real um 4–5%. Auch Unternehmen im Handelssektor, wo die Löhne im Schnitt am tiefsten sind, würden 2024 Lohnerhöhungen in Kauf nehmen müssen, nicht zuletzt, weil der Mindestlohn seit dem 1. Januar bei 19.242 Rubel (200 Euro) liegt, um 18,5% höher als im vergangenen Jahr. Im vergangenen Jahr seien die Reallöhne quer durch alle Branchen um rund 8% gewachsen, hatte Präsident Putin im Dezember verkündet.

Dank dem inflationsbereinigt beträchtlich steigenden Mindestlohn und den zunehmend zielgruppenorientierten staatlichen Programmen zur Armutsbekämpfung ist es der russischen Regierung insbesondere seit dem Corona-Ausbruch 2020 gelungen, den Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung spürbar zu reduzieren. Hatte er 2020 noch bei 12,1% gelegen, so sank der Armenanteil im vergangenen Jahr auf geschätzte 9,6%. Dabei handelt es sich um einen postsowjetischen Tiefstwert.
Die Tinkoff-Anwendung ETNA hat zudem eine Prognose abgegeben, wie viele Wohnungen in Russland 2024 gebaut werden. ETNA zufolge sollen in diesem Jahr 110 Millionen Quadratmeter neuer Wohnraum entstehen. Die Schätzung des russischen Bauministeriums ist mit 104–105 Millionen Quadratmetern konservativer. Im vergangenen Jahr ist es den Bauträgern gelungen, die Erwartungen zu übertreffen und laut Rosstat 110 Millionen Quadratmeter Wohnfläche fertigzustellen. Das sind um 7% mehr als der erst 2022 erzielte vorherige Rekord – 103 Millionen Quadratmeter).

In den vergangenen Jahren hat sich der Einfamilienhausbereich dynamischer entwickelt als der Wohnblockbau. In den Corona-Jahren 2020 und 2021 wurde der Trend zum Häuschen im Grünen noch stärker. Während der Pandemiekrise gab es im Unterschied zu 2016, 2017 und 2018 auch insgesamt keinen Einbruch im Wohnungsmarkt. 2021 kam es zu einem 13%-Wachstum. Das war der zweithöchste Wert im vergangenen Jahrzehnt. 2014 war der Markt sogar um 19% expandiert. Absolut war er damals aber auf „nur“ 84 Millionen Quadratmeter gekommen, um knapp ein Viertel weniger als im vergangenen Jahr.
Die Analysten der führenden Moskauer Online-Plattform für Immobilien CIAN nennen einen „versteckten“ Grund für die Hochkonjunktur im Einfamilienhaussegment: die seit Juli 2022 ausgeweitete „Datschenamnestie“. Es handelt sich um ein vereinfachtes Verfahren zur Überführung von Sommer- und Gartenhäusern und dazugehörigen Grundstücken ins Eigentum. In Verbindung mit der Möglichkeit eines seit Juni 2021 staatlich subventionierten Erdgasanschlusses für Eigentumshäuser stößt die „Datschenamnestie“ zurzeit bei Hunderttausenden russischen Familien auf Interesse.

Der eigentliche Wohnungsbau wird vor allem durch Vorzugsdarlehen für Neubauwohnungen gestützt. Diese werden seit der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 gewährt. Derzeit werden diese zu einem jährlichen Zinssatz von 8% angeboten. Das entsprechende Förderprogramm wurde im Dezember 2022 bis zum 1. Juli 2024 verlängert. Die Höhe eines solchen Wohnungskredits darf bei maximal sechs Millionen Rubel (62.000 Euro) liegen. In Moskau und Sankt Petersburg sowie in deren Umland, wo die meisten Wohnimmobilien teurer sind, gilt eine zweimal höhere Obergrenze.

Quellen: RBC 1, 2, Rosstat 1, 2, 3, Rossiskaja Gaseta, Inecon, Tass, Kremlin 1, 2