Fokusanalyse

Russische Gaslieferungen nach Europa

Im letzten Jahr seines Bestehens brachte der Ukraine-Transit 15,4 Mrd. Kubikmeter russisches Erdgas nach Europa, 6% mehr als 2023. Mit dem Auslaufen des russisch-ukrainischen Transitvertrags kann Russland sein Gas per Pipeline nun nur noch über die Türkei nach Europa liefern. Über die Schwarzmeerpipeline TurkStream und ihre Fortsetzung Balkan Stream gelangten im vergangenen Jahr 16,7 Mrd. m³ Gas in die EU, was eine Steigerung um 23% zum Vorjahr bedeutete. Das ermittelte die Wirtschaftszeitung Vedomosti anhand von Daten des Verbands Europäischer Gasnetzbetreiber (ENTSOG) und des russischen Gasproduzenten Gazprom. Insgesamt legten die russischen Pipelineexporte nach Europa um 14% auf 32,1 Mrd. m³ zu.

Offenbar konnte Russland auch seine Exporte von Flüssiggas (LNG) nach Europa steigern. Der norwegische Branchenspezialist Rystat Energy schätzt ihr Volumen für 2024 auf 24,2 Mrd. m³ bzw. 17,8 Mio. Tonnen LNG. Damit wäre der Rekord aus 2022 von 16,4 Mio. t übertroffen, 2023 waren es 15,1 Mio. t. Bei diesen Angaben handelt es sich um die Mengen, die auf Schiffen in europäischen Häfen ankamen. Ein Teil der Lieferungen dürfte reexportiert worden sein, bemerken die Analysten. Das Volumen der russischen Pipelinelieferungen nach Europa beziffert Rystat mit 49,5 Mrd. m³. Das legt den Schluss nahe, dass die Norweger auch die direkten russischen Lieferungen an die Türkei in ihren Zahlen berücksichtigen.

Lage nach Transit-Ende
Seit dem 1. Januar fließt kein russisches Gas mehr durch die Ukraine nach Europa. Im Laufe der letzten Dezemberwoche hatte sich das Transit-Volumen von mehr als 420 GWh pro Tag auf 388 GWh am letzten Tag 2024 verringert. Die Liefermengen über die Türkei mit dem Eintrittspunkt Bulgarien haben sich nach dem Jahreswechsel nicht nennenswert verändert und bewegen sich zwischen rund 520 und 580 GWh pro Tag.

Bei den Gaspreisen hat das Ende des Ukraine-Transits nicht zu einem weiteren Anstieg geführt. Gestern Mittag kostete eine Megawattstunde (MWh) Gas mit Lieferung im Februar am niederländischen virtuellen Handelspunkt TTF rund 45 Euro. Am Tag nach dem Transit-Ende, dem 2. Januar, war der Preis kurzzeitig auf mehr als 50 Euro gestiegen. Allerdings dürfte der Markt das absehbare Transit-Ende schon zuvor eingepreist haben. Im Verlauf des vergangenen Jahres hatte der Preis von rund 30 Euro im Februar auf fast 49 Euro Ende Dezember zugelegt. 2023 hatte er beinahe durchgehend über 50 Euro gelegen, mit dem Höhenpunkt von 66,3 Euro zu Beginn des Jahres.

Österreich
Die beiden am meisten direkt betroffenen EU-Länder sind Österreich und die Slowakei. Die Österreicher kompensieren den Wegfall des russischen Gases zum Teil durch Importe aus Deutschland. Dabei handelt es sich um norwegisches LNG, das in Deutschland regasifiziert wird und über Pipelines nach Österreich fließt. Österreich bezieht zurzeit rund 120 Gigawattstunden pro Tag auf diesem Weg. Die Importe des russischen Gases beliefen sich auf 200 bis 300 GWh täglich. Die Lücke deckt das Land aus seinen Speichern, was Beobachter auch mit den aktuell hohen Gaspreisen erklären. Aus der Statistik des europäischen Informationssystems AGSI geht hervor, dass die tägliche Entnahme aus den österreichischen Gasspeichern in den ersten zehn Tagen des Jahres im Schnitt 0,49% betrug. In der letzten Dekade 2024 waren es 0,26%. EU-weit beschleunigte sich die Entnahme von 0,38% auf 0,54%. Der Anstieg dürfte auch mit den etwas tieferen Temperaturen seit dem Jahreswechsel zusammenhängen. So lag in den letzten zehn Tagen 2024 die Durchschnittstemperatur in Wien bei 1,5 Grad, im neuen Jahr waren es 1,35 Grad.

Slowakei
Die Slowakei kompensiert die weggefallenen russischen Lieferungen offenbar weitgehend mit gespeichertem Gas. Das Entnahmetempo stieg deutlich von 0,28% auf 0,51% pro Tag. Der Füllstand der slowakischen Speicher betrug am Sonntag 70%. In Österreich waren es 73%, der EU-weite Schnitt war 66,4%. Die Slowakei hatte bis zum 31. Dezember mehr als 400 GWh Gas pro Tag über die Ukraine aus Russland bezogen. Nach dem 1. Januar gelangt Erdgas nur noch über Ungarn in das Land, wie der slowakische Gasnetzbetreiber Eustream berichtet. Laut der Statistik bewegt sich die Menge im neuen Jahr zwischen rund 70 und 93 GWh pro Tag. Im Dezember waren es zwischen 96 und 103 GWh.

Warnungen
Während die Slowaken schon seit Wochen vor den negativen Auswirkungen des Transit-Endes warnen, schlug vergangene Woche auch der größte britische Versorger Centrica Alarm. Die Füllstände der Gasspeicher in Großbritannien seien „besorgniserregend niedrig“, teilte das Unternehmen mit. Sie seien etwa zur Hälfte gefüllt, das Niveau des Vorjahres würde um 26% unterboten. Auch im Rest Europas sei die Lage ähnlich, so Centrica. Die Briten machen dafür neben dem kalten Wetter explizit das Ende der russischen Gaslieferungen durch die Ukraine verantwortlich.

Die US-Nachrichtenagentur Bloomberg erwartet sogar Auswirkungen des Transit-Stopps weit über Europa hinaus. Weil das russische Pipelinegas hauptsächlich durch LNG ersetzt werde, drohe ein „globales Gerangel“ um die begrenzte Ressource, schrieb Bloomberg gestern. Weniger zahlungskräftige Länder, etwa in Südamerika und Asien, dürften das Nachsehen haben, wenn die Europäer mit dem LNG ihre entleerten Gasspeicher vor dem nächsten Winter auffüllen.

Alternativen für Russland
Russland bleiben zwei große Abnehmer für sein Pipelinegas, die Türkei und China. Experten schätzen gegenüber der US-Nachrichtenagentur Bloomberg, dass Russland im neuen Jahr der Türkei neben den 15 Mrd. m³ Gas, die für Europa vorgesehen sind, bis zu 25 Mrd. m³ Gas direkt liefern könnte. Das wäre eine Steigerung zum vergangenen Jahr um beinahe 10 Mrd. m³. Die russischen Exporte nach China sollen planmäßig auf 38 Mrd. m³ steigen, was einer vollen Auslastung der Pipeline Power of Siberia entsprechen würde. In den vergangenen Jahren hatte Gazprom seine Lieferungen an China kontinuierlich ausgebaut. 2022 beliefen sie sich auf 15,5 Mrd. m³, 2023 waren es 22,7 Mrd. m³, im vergangenen Jahr sollte das Volumen nach Plan auf 30 Mrd. m³ steigen. Tatsächlich würde dieses Ziel um rund 1 Mrd. m³ übertroffen, teilte der Staatskonzern Ende 2024 mit. Unter optimalen Bedingungen könnten bis zu 45 Mrd. m³ Gas im Jahr durch die Pipeline fließen, schätzen Experten.

Weil das Exportpotential über die bestehenden Gaspipelines begrenzt ist, setzt Russland zunehmend auf LNG. Seine Exporte 2024 schätzte die russische Regierung Ende Dezember auf insgesamt 33 Mio. Tonnen. Bis 2035 will sie die LNG-Exporte auf 100 Mio. t steigern. / Vedomosti 1, 2, Daryo, TASS, Interfax (alle RU), ENTSOG, ICE, AGSI, Guardian, Bloomberg 1, 2, Eustream, Barron's (alle EN), Kleine Zeitung, Meteostat

🔎Mehr über den beendeten Ukraine-Transit und alternative Gasquellen für Europa lesen Sie in unserer Fokusanalyse von Mitte Dezember.