Fokusanalyse

BOFIT-Prognose für Russlands Wirtschaft

Das Forschungsinstitut BOFIT der finnischen Zentralbank hat seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft kräftig angehoben. Vor einem halben Jahr erwartete es noch, dass der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion sich von 3,6% im Jahr 2023 auf rund 2% im Jahr 2024 abschwächen werde. In seiner Anfang Oktober veröffentlichten neuen Prognose gehen die Finnen jetzt davon aus, dass Russlands Wirtschaft in diesem Jahr erneut um rund 3,5% wächst. Im Hinblick auf die Konjunkturentwicklung im Jahr 2025 bleibt BOFIT jedoch bei seiner Einschätzung von Ende März, dass das Wachstum schon im nächsten Jahr auf nur noch rund 1% einbricht.
Zur Anhebung seiner Wachstumsprognose für das laufende Jahr von 2% auf 3,5% meint BOFIT, die Wachstumstreiber für die russische Wirtschaft seien die Verbrauchernachfrage und die Investitionen in die Rüstungsproduktion. Dennoch dürfte das Wachstum der Anlageinvestitionen 2024 etwas geringer ausfallen als im Jahr 2023, in dem auch die Lager stark aufgestockt wurden. Die Verbrauchernachfrage sei 2024 durch überraschend starke Lohn- und Kreditzuwächse angekurbelt worden.

Im zweiten und dritten Quartal 2024 zeigten sich Anzeichen einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, so BOFIT. Trotz des rasanten Wachstums in den Industriezweigen für den Militärbedarf drückte die Schwäche im Rohstoffsektor die Industrieproduktion. Auch das Wachstum im Baugewerbe, im Dienstleistungssektor und im Einzelhandel verlangsamte sich. Diese Beobachtung wird auch unterstützt von den aktuellen Zahlen des Purchasing Manager Indexes, der zum ersten Mal seit vielen Monaten unter der Größe von 50 liegt.
Weniger tiefer Wachstumseinbruch erwartet
Einen ähnlich raschen Rückgang des Wirtschaftswachstums in Russland wie BOFIT erwartet auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Sie geht davon aus, dass der Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts 2025 nur noch 1,1% erreicht. Auch die russische Zentralbank rechnet bisher für das nächste Jahr nur mit einem Wachstum zwischen 0,5% und 1,5%.

Die Mehrzahl der Konjunkturexperten erwartet jedoch, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum 2025 nicht so stark abschwächt. So prognostiziert auch die „Gemeinschaftsdiagnose“ der deutschen Konjunkturforschungsinstitute, dass das Wachstum der russischen Wirtschaft 2025 noch 1,6% erreicht und erst 2026 auf 1,0% sinkt. Bei der Interfax-Umfrage Anfang Oktober gingen die 11 Teilnehmer im Durchschnitt davon aus, dass die Wirtschaft im nächsten Jahr noch um 2% wächst.

Die russische Regierung nimmt in ihrer Haushaltsplanung an, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate 2025 nur auf 2,5% sinkt. Die aktuellen Wachstumsprognosen führender russischer Konjunkturforschungsinstitute stützen diese Einschätzung. Sie liegen für 2025 zwischen +2,0 bis +2,4% (CMASF) und +3,0% (Russische Akademie der Wissenschaften).

Kapazitätsauslastung auf „historisch beispiellosem Niveau“
In den kommenden Monaten und Jahren wird Russlands Wirtschaftswachstum nach Einschätzung von BOFIT durch den Mangel an Arbeitskräften, fehlende Produktionskapazitäten und die Einfuhrbeschränkungen gebremst werden.
Die russische Wirtschaft habe den Punkt erreicht, an dem die Produktion nicht mehr mit der Nachfrage Schritt halten könne. BOFIT stellt heraus, dass die Kapazitätsauslastung der russischen Wirtschaft seit 2021 rasant gestiegen sei. Sie habe ein historisch beispielloses Niveau erreicht. Dazu beigetragen habe, dass der Zugang Russlands zu neuen Maschinen und Geräten, insbesondere Ersatzteilen, durch die Sanktionen eingeschränkt wurde. Seit Ende 2023 habe sich die Situation weiter verschärft. Die hohe Kapazitätsauslastung äußert sich, so BOFIT, in einer hohen – und steigenden – Inflation. Die jährliche Inflationsrate sei von knapp über 2% im April 2023 auf über 9% im August 2024 gestiegen.

Hohes Wachstum „äußerst unwahrscheinlich“
Sinikka Parviainen, BOFIT Senior Economist, merkt in der Presseerklärung zur neuen BOFIT-Prognose an: „Der derzeitige wirtschaftliche Abschwung ist größtenteils auf Arbeitskräftemangel und Kapazitätsengpässe zurückzuführen. Ein hohes Wachstum ist in Zukunft äußerst unwahrscheinlich, da dies große Produktivitätssteigerungen erfordern würde. Sie sind unwahrscheinlich, da ein großer Teil der Investitionen in Russland heute in die Rüstungsindustrie fließt.“

Strengere Sanktionen hätten außerdem den Zugang Russlands zu „kritischen Technologien“ und internationalen Lieferketten beeinträchtigt. Das Wachstum der russischen Wirtschaft dürfte in den nächsten zwei Jahren laut BOFIT kaum über 1% pro Jahr liegen. Dieses Wachstumsniveau liege nahe an der langfristigen potenziellen Wachstumsrate der russischen Wirtschaft.

Gleichzeitig betont BOFIT die hohe Unsicherheit von Prognosen für die russische Wirtschaft. Russland habe beschlossen, keine „kritischen Daten“ mehr zu veröffentlichen.

Raiffeisenbank: „Überhitzung“ hält an
Die österreichische Raiffeisenbank erwartet wie BOFIT, dass die russische Wirtschaft 2024 etwa so stark wächst wie 2023 (+3,6%).

In ihrem Ende September veröffentlichten Monatsbericht verweist die Bank darauf, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal im Vorjahresvergleich noch um 4,1% Prozent gestiegen ist. Das saisonbereinigte Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion gegenüber dem Vorquartal habe sich im zweiten Quartal jedoch deutlich auf nur noch 0,4% abgeschwächt.

Eine endgültige Rückkehr der russischen Wirtschaft aus der „Überhitzung“ zu „normalen Wachstumsraten“ ist nach Einschätzung der Raiffeisenbank jedoch noch weit entfernt. In ihrem Wochenbericht vom 07. Oktober schätzt die Raiffeisenbank, dass die realen Verbrauchsausgaben der Bevölkerung (realer Umsatz im Einzelhandel und mit Dienstleistungen) im August noch um 4,4% höher waren als vor einem Jahr. Im Juli waren sie im Vorjahresvergleich noch stärker gestiegen (+5,6%).
Damit bleibe der Private Verbrauch „überhitzt“. Ein Grund dafür sei offensichtlich die anhaltende Knappheit des Angebots an Arbeitskräften. Die Reallöhne seien im Juli gegenüber dem Vormonat um 1,1% gestiegen. Außerdem würde die Kreditaufnahme durch die Verbraucher weiter kräftig steigen.

Die Raiffeisenbank verweist darauf, dass das Wirtschaftsministerium davon ausgeht, dass der reale private Verbrauch 2025 und 2026 um rund 5% bis 6% jährlich wachsen dürfte. Erst 2027 werde der Anstieg auf rund 3% sinken.

BOFIT zum Haushaltsplan
Vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung analysierte Heli Simola, BOFIT Senior Economist, wie sich Russlands konsolidierter Staatshaushalt entwickelt, vor allem die Rüstungsausgaben. Ihr Fazit: Die russische Regierung steigert die Militärausgaben weiterhin auf Kosten anderer Ausgabenbereiche.

Anhand des vorläufigen Haushaltsplans der Regierung bis 2027, der dem russischen Parlament Ende September zugeleitet wurde, analysierte Heli Simola, BOFIT Senior Economist, wie sich die Rüstungsausgaben Russlands entwickeln. Ihr Fazit: Die russische Regierung steigert ihre Militärausgaben weiter auf Kosten anderer Ausgabenzwecke. Zur Finanzierung der Militärausgaben werden dem privaten Sektor Mittel entzogen. Der Inflationsdruck wird angeheizt. Der neue Haushaltsplan sieht für das kommende Jahr einen weiteren Anstieg der Staatsausgaben im „konsolidierten Staatshaushalt“ um rund 10% vor. Er ergibt sich hauptsächlich aus höheren Ausgaben in der Kategorie „Verteidigung“. Sie sollen 2025 gegenüber dem Haushalt 2024 um fast 20% steigen. Zur Entwicklung der Einnahmenseite des Staatshaushalts meint Heli Simola: „Um die höheren Militärausgaben zu finanzieren, verlagert der neue Haushaltsplan die Finanzierungslast stärker auf den privaten Sektor, insbesondere auf die Unternehmen.“
Der Haushaltsplan sieht für 2025 einen Anstieg der Staatseinnahmen um 14% vor. Die meisten dieser neuen Einnahmen werden von Unternehmen stammen, hauptsächlich in Form höherer Einkommen- und Umsatzsteuern. Viele Steuererhöhungen sollen Anfang nächsten Jahres in Kraft treten, darunter eine Erhöhung der Körperschaftssteuer, die Ausweitung der Mehrwertsteuer auf kleine Unternehmen und ein höherer Einkommenssteuersatz für Russlands reichste Haushalte. Trotz höherer Einnahmen dürfte der konsolidierte Haushalt in den kommenden Jahren aber weiterhin defizitär bleiben. Das erwartete Defizit für 2024 beträgt 4 Bio. Rubel (2% des BIP). In den nächsten Jahren soll das Defizit im Jahresdurchschnitt auf 2 Bio. Rubel (1% des BIP) sinken.

Risiken der Haushaltspläne
Russland dürfte, so Heli Simola, zwar weiterhin keine größeren Probleme bei der Finanzierung der geplanten Defizite haben. Die Defizite dürften durch Schulden gedeckt werden, wodurch die Staatsschuldenquote bis Ende 2027 18% des BIP erreichen werde. Als Reserve umfasse der Nationale Vermögensfonds außerdem noch über liquide Mittel in Höhe von rund 5 Bio. Rubel, rund 50 Mrd. Euro.
Simola weist aber auf das Risiko unerwartet niedriger Ölpreise hin: Die Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor, die 2025 voraussichtlich 5% des BIP ausmachen werden, stellten noch immer eine wichtige Einnahmequelle für den Haushalt dar. Der Haushaltsrahmen basiere auf der Annahme, dass der Exportpreis für russisches Öl in den Jahren 2025 und 2026 durchschnittlich 70 USD/Barrel beträgt. Sollte der Preis stark sinken, werde es für Russland viel schwieriger, die höheren Haushaltsausgaben zu finanzieren.

Außerdem erscheinen der BOFIT-Analystin, die dem Haushalt 2025 zugrunde gelegten Annahmen von 2,5% BIP-Wachstum und 4,5% Inflation „recht optimistisch“. Die höheren Ausgaben werden nach ihrer Einschätzung den Inflationsdruck verstärken.