Fokusanalyse

Das Drama um Wildberries

Bis vor Kurzem war Wildberries die größte Erfolgsstory der russischen Wirtschaft. Sein Aufstieg zum „russischen Amazon“, wie der Onlineshop schon jetzt oft genannt wird, schien unaufhaltsam. Noch märchenhafter war der Höhenflug seiner Mitgründerin Tatjana Bakaltschuk. Die Russland-Koreanerin hatte es im Moskau der frühen Nullerjahre als Englischlehrerin im Mutterschaftsurlaub zur Dollar-Milliardärin und reichsten Frau Russlands geschafft. Vor kurzem teilte die Unternehmerin, die heute ihren Mädchennamen Kim trägt, die Kontrolle über Wildberries und büßte mehr als ein Drittel ihres Vermögens ein. Grund dafür ist eine rätselhafte Fusion mit einem weit kleineren Unternehmen, die Wildberries im Sommer eingegangen ist.

Wachstums-Weltmeister Russland
Der Onlinehandel ist in Russland in den vergangenen Jahren rasant gewachsen. Die Verkäufe haben sich seit 2017 nominell auf 7,9 Bio. Rubel beinahe verachtfacht, berichtet der russische Branchendienst Data Insight. In US-Dollar gerechnet ergibt sich eine Verfünffachung auf 92,3 Mrd. Dollar. Zum Vergleich: Der größte E-Commerce-Markt der Welt, China, legte in der gleichen Zeit um das 4,4-Fache auf 3 Bio. Dollar zu, in den USA wuchs er um das 2,6-Fache auf zuletzt 1,2 Bio. Dollar. Der deutsche Onlinehandel ist seit 2017 nominell um 11,5% auf 97 Mrd. Dollar gewachsen, ist also wegen der Inflation real leicht geschrumpft.
Im vergangenen Jahr wies der russische Onlinehandel sogar das weltweit größte Wachstum auf, hebt Data Insight hervor. Bei einem nominellen Wachstum um 48% habe das reale Wachstum bei 36% gelegen, weit mehr als in den übrigen, schnell wachsenden Märkten wie den Philippinen (24%) und Indien (22%). Wegen des schwachen Rubelkurses betrug das russische Wachstum in Dollar berechnet nur 19%.

Marktführer Wildberries
Zwei Unternehmen dominieren den russischen Onlinehandel: Der bereits 1998 gegründete E-Commerce-Pionier Ozon und Wildberries, dessen Geschichte bis 2004 zurückreicht. Die russische Wettbewerbsaufsicht FAS schätzte den Marktanteil der beiden im Frühjahr auf zusammen 82%, wobei Wildberries allein auf 47% komme. Auch betreibt das Duo 85% der Ausgabepunkte für Onlinebestellungen im Land. Das schwedische Portal Webretailer führt die beiden russischen Unternehmen seit diesem Jahr unter den zehn meistbesuchten Shopping-Seiten der Welt. Mit 342 bzw. 316 Mio. Besuchen pro Monat belegen Wildberries und Ozon die Plätze 9 und 10 des Rankings, das von den US-Giganten Amazon und Ebay angeführt wird, die 4,8 bzw. 1,2 Bio. Mal pro Monat besucht werden.щ
Der Vorsprung von Wildberries im Wettlauf zum „Amazon Russlands“ zeigt sich im Detail. Laut der Übersicht von Data Insight erhielt Wildberries im vergangenen Jahr fast 3 Mrd. Bestellungen, dreimal mehr als Ozon. Dabei summierte sich der Wert der Waren, die das Unternehmen selbst und tausende andere Händler auf der Plattform zusammen verkauften, auf fast 2,2 Bio. Rubel (21 Mrd. Euro). Das börsennotierte Ozon bezifferte seinen Gesamtverkaufswert (GMV) für 2023 auf 1,7 Bio. Rubel (16,2 Mrd. Euro), was dem Stand bei Wildberries des Jahres 2022 entsprach. Wildberries gab seinen GMV sogar mit 2,5 Bio. Rubel (23,8 Mrd. Euro) an. Damit hätte der Marktplatz erstmals die beiden größten Supermarktketten des Landes eingeholt. Der Discounter Pjatjorotschka meldete für 2023 Gesamtverkäufe von 2,49 Bio. Rubel, sein Rivale Magnit brachte es auf 2,55 Bio. Rubel. Beide Offline-Einzelhändler wuchsen mit 17% bzw. 8% langsamer als Wildberries, das für das laufende Jahr ein Wachstum seines GMV um 60% voraussagt.
Erlösstruktur und Expansion
Der Unternehmensumsatz von Wildberries im engeren Sinn belief sich 2023 auf 539 Mrd. Rubel (5,1 Mrd. Euro). Wie der russische Markt insgesamt hat Wildberries seine Erlöse seit 2017 verachtfacht. Nach eigenen Angaben schrieb das Unternehmen in den vergangenen Jahren durchgehend schwarze Zahlen. Für 2023 meldete es einen Reingewinn von 18,9 Mrd. Rubel (180 Mio. Euro), fast doppelt so viel wie im Vorjahr. Mehr als 40% der Erlöse stammten aus Provisionen der Händler, die Wildberries als Online-Marktplatz nutzen. Eigene Verkäufe im In- und Ausland steuern in etwa noch einmal den gleichen Anteil bei, der Rest entfiel vor allem auf Werbung, die Verkäufer auf der Internetseite von Wildberries schalten, sowie Vertragsstrafen von Händlern und Transportunternehmen. Heute ist Wildberries neben Russland in sechs weiteren GUS-Ländern aktiv, seit Ende 2023 auch in China. Zudem eröffnete es Ende Oktober seine erste Warenausgabestelle in Georgien. Von seinen europäischen Märkten hat es sich nach 2022 zurückgezogen.
Nach eigenen Angaben betreibt Wildberries 42.000 Ausgabestellen für Bestellungen und verfügt über 2 Mio. Quadratmeter an Warenlagerfläche. Das Unternehmen gehöre nicht nur zu den größten Eigentümern von Gewerbeimmobilien in Russland, sondern sei auch eines der führenden Logistikunternehmen des Landes, schreibt das russische Wirtschaftsmagazin Monocle. Aus dem Unternehmen erfuhr es, dass es seine Flotte von Transportautos, die bereits mehrere hunderte Fahrzeuge stark war, im vergangenen Jahr um 1200 Lkw erweitert habe.

Fusion unter Ungleichen
Das bisherige Wachstum war offenbar nicht rasant genug. Mitte Juni verkündete Wildberries, sich mit dem Anbieter von Außenwerbeflächen Russ Outdoor zusammenschließen zu wollen. Russische Medien berichteten damals unisono, dass der Schritt von Wladimir Putin persönlich genehmigt worden sei. Der Präsident habe den stellvertretenden Leiter der Kremlverwaltung, den ehemaligen Wirtschaftsminister Maxim Oreschkin, mit der „Betreuung“ des Vorhabens beauftragt. In einem kolportierten Brief an den Kreml sollen Tatjana Kim und der Geschäftsführer von Russ, Robert Mirsojan, die Schaffung eines Konkurrenten von Amazon und Alibaba im globalen Maßstab in Aussicht gestellt haben. Auch wolle das neue Unternehmen ein Bezahlsystem entwickeln, das „Rubel-Transaktionen mit der ganzen Welt“ und unter Umgehung des westlichen Bezahlsystems Swift ermöglichen solle. Dieses und weitere ambitionierte Vorhaben im Inland sollen zu einem zusätzlichen Wachstum der russischen Wirtschaft um 1,5% pro Jahr führen, wurde in dem Brief versprochen.

Details zur Vereinigung wurden erst später bekannt. Beide Unternehmen haben ihre Kerngeschäftsbereiche in eine Firma namens RWB eingebracht. Wildberries erhielt 65% der Anteile am neuen Unternehmen, die übrigen 35% gingen an Russ. Geschäftsführer des vereinigten Unternehmens wurde Robert Mirsojan, die Funktion von Kim bei RWB bleibt unklar. Monocle schreit, dass sie „sich entschieden habe, für die strategische Entwicklung und die Kommunikation mit Öffentlichkeit und Regierungsorganen verantwortlich zu sein“.

Der Aufteilung der Anteile an RWB lag eine Bewertung von Russ in Höhe von knapp 500 Mrd. Rubel (4,8 Mrd. Euro) zugrunde. Obwohl das Unternehmen russischer Marktführer auf seinem Gebiet ist, erscheint die Bewertung zu hoch, urteilt etwa die russische Ausgabe des Magazins Forbes. Sie entspreche in etwa dem Hundertfachen des Gewinns von Russ im vergangenen Jahr und mehr als dem zehnfachen seines Umsatzes, der bei 39 Mrd. Rubel (370 Mio. Euro) lag. Verantwortlich für die Bewertung ist das russische Beratungsunternehmen B1, die ehemalige lokale Tochter von EY. In sie eingeflossen seien auch die Wachstumschancen, die sich aus der Fusion mit Wildberries ergeben könnten, erklärten die Analysten gegenüber Forbes. Das Wirtschaftsmagazin selbst bewertet Russ nur mit 77 Mrd. Rubel (730 Mio. Euro).

Dass Tatjana Kim einen hohen Preis für die Fusion gezahlt hat, meint auch die US-Ausgabe von Forbes. Da sie „de facto 35% ihres Unternehmens weggegeben“ habe, schrumpfte ihr Vermögen laut Forbes um 3,4 Mrd. auf 4,1 Mrd. Dollar.

Rosenkrieg um Wildberries
Der geschäftliche Umbruch bei Russlands größtem Onlinehändler wird vom persönlichen Drama zwischen Tatjana und ihrem langjährigen Ehemann Wladislaw Bakaltschuk überlagert, das parallel zur Fusion entbrannte. Er gilt als Mitgründer von Wildberries und war seit den Anfängen vermutlich an dessen Führung beteiligt, was zum Ruf von Wildberries als Familienunternehmen beitrug. Rechtlich besaß er nur 1% der Anteile, während seine Frau 99% hielt. Die Fusionspläne mit Russ bezeichnete Wladislaw nach ihrem Bekanntwerden als feindliche Übernahme. Er bekam dabei öffentlich Schützenhilfe des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, dessen Unterstützung er offenbar erbeten hatte. Tatjanas öffentliche Antwort lautete: „Es ist keine feindliche Übernahme. Es ist eine Scheidung“, womit der Startschuss für den Rosenkrieg um Wildberries gefallen war. Er gipfelte Ende September in einer Schießerei in der Moskauer Firmenzentrale von Wildberries, bei der zwei Wachleute starben. Wladislaw hatte versucht, ins Gebäude einzudringen. Er und seine Begleiter wurden jedoch am Eingang von einer ebenfalls bewaffneten Gruppe erwartet. Für Bakaltschuk hatte der Vorfall, der Beobachter an die „wilden Neunzigerjahre“ erinnerte, bisher keine rechtlichen Folgen.
Spekulationen um Fusions-Motive
Von Anfang an zweifelten russische Beobachter an der wirtschaftlichen Rechtfertigung der Fusion, belegt ein Artikel der Wirtschaftszeitung Kommersant von Mitte Juni. Tatjana Kim und ihr neuer Geschäftspartner Robert Mirsojan äußerten sich dazu in einem gemeinsamen Interview mit der Wirtschaftszeitung RBC. Kim sagte dort, dass die Initiative von ihr ausgegangen sei. Eine der meistgestellten Fragen der Händler auf ihrer Plattform sei die Verkaufsförderung. Ihr sei klar gewesen, dass bei den eigenen Werbeangeboten ein „qualitativer Sprung“ nötig sei. Die von Russ angebotenen, speziell für kleine und mittlere Unternehmen entwickelten Produkte kamen da gerade recht, so Kim. Wildberries sei nicht in der Lage, „selbständig Werbung zu machen“, fügte sie hinzu.

In einem weiteren Interview Ende Oktober bekräftigte Kim, dass die Fusion die richtige Entscheidung gewesen sei. Auch andere Onlineunternehmen wie z. B. Yandex hätten den Markt für Außenwerbung zuletzt für sich entdeckt. Über die Zukunftspläne, „um deren Willen wir uns eigentlich auch vereinigt haben“, wolle sie erst um die Jahreswende informieren.

Ein Motiv für den Zusammenschluss könnten die Verbindungen von Robert Mirsojan und seinem Bruder Levan nach Armenien sein, meint Monocle. Sie hätten großen Einfluss auf Wirtschaft und Politik des Landes, das sich „loyal gegenüber Lieferungen aus und nach Russland“ gezeigt habe. Zuvor habe Kim bei den Importen auf Kasachstan gesetzt. Das russische Nachbarland habe jedoch aus Angst vor westlichen Sanktionen den Warentransit nach Russland beschränkt. Der Ökonom Sergej Anurejew sieht dagegen „verborgene Probleme“ von Wildberries infolge von Inflation, Schulden und hohem Leitzins als Auslöser für die Fusion. Ihre Absicht könnte es sein, den Status eines „systembildenden Unternehmens“ zu erhalten, wie ihn bereits die Konkurrenten Yandex und Ozon im Bereich der Information und Kommunikation innehaben, so Anurejew.

Westliche Medien wie das Berliner Portal IntelliNews sehen das Ende von Wildberries als unabhängigem Privatunternehmen nahe. Ziel sei die staatliche Kontrolle über die Marktführer im Onlinehandel, nach dem Muster anderer Schlüsselbrachen wie Energie, Medien, Internet und Banken, so die Interpretation der Vorgänge. Seit Jahren gibt es Spekulationen über die wahren Eigentümer von Russ, dessen beherrschende Stellung auf dem russischen Markt für Außenwerbung sich auch der Übernahme von Konkurrenten verdankt. Neben den Mirsojans wird in diesem Zusammenhang oft der ehemalige Vizepremier Igor Schuwalow genannt, der heute die staatliche Entwicklungsbank VEB leidet, die einen Teil der Aktien von Russ besitzen soll.

Über die Verbindung von Russ zu einem anderen als kremlnah geltenden Politiker, Sulejman Kerimow, hatte im Juni auch der Kommersant berichtet. Er vertritt als Senator im Föderationsrat die Kaukasusrepublik Dagestan. Kerimow ist auch Unternehmer, der sein Vermögen vor allem im Bergbau und der Förderung von Gold machte. Forbes schätzt es auf fast 11 Mrd. Dollar. Dass Kerimow im Drama um Wildberries eine der Hauptrollen spielt, bestätigte indirekt auch Ramsan Kadyrow. Mitte Oktober drohte er u. a. Kerimow im Zusammenhang mit der Schießerei bei Wildberries öffentlich mit der „Blutrache“.