Fokusanalyse

Russischer Schiffbau

Für eine Exportnation wie Russland ist die Verfügbarkeit von Handelsschiffen von kritischer Bedeutung. 2023 transportierte es zum Beispiel 57 Mio. Tonnen Getreide bzw. 88% seines Exports über das Meer. Ähnlich ist die Abhängigkeit inzwischen beim wirtschaftlich bedeutendsten russischen Exportgut, dem Erdöl. Per Tanker gelangten im vergangenen Jahr 60% der Ölexporte nach China und 100% nach Indien. Auf diese beiden Länder entfielen beinahe 80% der russischen Ölexporte. Das immer wichtigere Flüssiggas (LNG) kann ohnehin nur mit speziellen Gastankern befördert werden.

Schiffbaunation Russland
Wie die meisten anderen Exportnationen baut Russland die nötigen Containerschiffe, Öl- und Flüssiggastanker nicht selbst, sondern bestellte sie bisher in China oder Südkorea. Auf diese beiden Länder entfallen etwa drei Viertel des globalen Schiffbaus, weitere 14% tragen noch die Japaner bei. Diese Angaben des britischen Branchendiensts Clarksons beziehen sich nicht auf die Stückzahl der fertiggestellten Schiffe, sondern auf die sogenannte gewichtete Bruttoraumzahl, mit der die Größe von Schiffen erfasst wird.
Die restlichen Länder kommen zusammen auf ein Zehntel der Weltproduktion. In dieser zweiten Liga der Schiffbaunationen belegte Russland im Jahr 2021 laut Clarksons den dritten Platz, nach den Philippinen und Vietnam und noch vor der Türkei, Deutschland und den Niederlanden. 2023 ist Russland hinter Deutschland und andere europäische Länder zurückgefallen, wie die UN-Statistik nahelegt. Ihr zufolge belief sich die russische Produktion von Handelsschiffen mit einer Größe von mehr als 100 Bruttoregistertonnen (BRT) auf 178.000 BRT. In Deutschland waren es 290.000 BRT, in Italien sogar 402.000 BRT.

Auch die Sowjetunion importierte ihre Handelsschiffe fast vollständig. Zudem befanden sich die bedeutendsten sowjetischen Werften an der ukrainischen Schwarzmeerküste, etwa in der Stadt Nikolajew, stellte das russische Transportministerium Ende 2022 fest. Daher habe Russland insbesondere den Bau von Großschiffen „praktisch von null auf wiederbeleben“ müssen. Der erste Schritt dahin sei der Bau der neuen Großwerft SSK Swesda im Fernen Osten (dazu unten mehr).
Werften in staatlicher Hand
Einen Umriss der russischen Schiffbauindustrie gab Ende 2021 der Dekan der Schiffbau-Fakultät der St. Petersburger Marine-Universität, Oleg Timofejew. In der Branche sind rund 170 große Unternehmen tätig, darunter 120 Werften, 40 Designbüros und 15 Forschungsorganisationen. 70% der Kapazitäten sind im Nordwesten des Riesenlandes konzentriert. Insgesamt seien mehr als 700.000 Menschen im Schiffbau beschäftigt, also etwa 1% der arbeitsfähigen Bevölkerung in Russland, so Timofejew.

Unklar ist, ob diese Zahl auch Mitarbeiter der Zulieferer und abhängiger Wirtschaftszweige beinhaltet. Der Staatskonzern OSK, der die 40 größten Unternehmen der Branche vereint und auf den 80% des russischen Schiffbaus entfallen, beschäftigt nach eigenen Angaben mehr als 100.000 Menschen. Große Anlagen wie die Nördliche Wert in St. Petersburg und Sewmasch im nordrussischen Sewerodwinsk sind auf Kriegsschiffe und U-Boote spezialisiert. St. Petersburg beherbergt noch weitere bekannte Werften wie das Baltische Werk, wo die riesigen nuklear angetriebenen Eisbrecher entstehen. Für das vergangene Jahr meldete OSK einen Umsatz von rund 400 Mrd. Rubel (4,3 Mrd. Euro), von denen 17% auf den zivilen Bereich entfallen seien. 2022 belief sich der Umsatz auf 350 Mrd. Rubel.

Laut dem Beratungsunternehmen Delowoj Profil beläuft sich der BIP-Anteil des Schiffbaus auf bis zu 1%. In ihrem Branchenbericht vom vergangenen Herbst hoben die Analysten die Abhängigkeit von Importen hervor. Zurzeit würden rund 70% der verwendeten Komponenten eingeführt, zitieren sie Angaben des Industrieministeriums. Bei den restlichen 30% der Komponenten handle es sich um Schiffsrümpfe und „unkomplizierte Metallkonstruktionen aus russischer Herstellung“, schreiben die Analysten. Früher habe Russland noch die Vorzüge der Globalisierung ausgeschöpft und bis zu 95% der Bauteile importiert.
Russische Produktion 2023
In russischen Werften laufen jedes Jahr rund hundert Schiffe mit einem Gewicht von mehr als 50 Tonnen vom Stapel. Zu dieser Größenklasse gehören z.B. bereits die meisten Fluss-Straßenbahnen, die auf der Moskwa verkehren. 2023 wurden 112 solcher Schiffe fertiggestellt, von denen 22 – überwiegend U-Boote – den Streitkräften übergeben wurden, berichtet der russische Wirtschaftsanalyst Infoline. 2022 waren es 82, was den kleinsten Wert der vergangenen zehn Jahre bedeutete. Am größten war die Produktion 2013 und 2014 mit je 141 Schiffen. Den Wert der in Russland gebauten zivilen Schiffe im Jahr 2023 beziffert Infoline auf 93 Mrd. Rubel (1 Mrd. Euro). Das waren 16% weniger als 2022.

Von den 90 im vergangenen Jahr in Russland gebauten zivilen Schiffen war mehr als jedes zweite ein sogenanntes technisches Schiff, wie das Branchenportal Media Paluba aufschlüsselt. Zur technischen Flotte gehören z.B. Schlepper, Flussbagger, Kräne und andere Hilfsschiffe mit und ohne eigenen Antrieb. Dazu kamen 18 Wassertaxis, Elektroschiffe und Tragflügelboote, die in der Regel für den Nahverkehr der Metropolen Moskau und St. Petersburg vorgesehen sind, sowie zehn Industrieschiffe für den Fisch- und Krabbenfang. Die russische Handelsflotte verstärkten 14 Schiffe, fünf Tanker und neun Frachter.

Noch mehr ins Detail geht das staatliche Marine-Forschungsinstitut CNIIMF in St. Petersburg, das in einer Studie untersuchte, welche hochseetauglichen Transport- und Handelsschiffe im vergangenen Jahr an russische Abnehmer ausgeliefert wurden. Von insgesamt 20 Schiffen wurden acht aus China und zwei aus Südkorea importiert. Die andere Hälfte stammte aus einheimischer Produktion: zwei kleine Passagierschiffe, eine Fähre, und sieben Handelsschiffe. Unter den letzteren stechen zwei Öltanker der sogenannten Aframax-Klasse hervor. Mit einer Tragfähigkeit von je 114.000 Tonnen sind diese in Südkorea entwickelten Schiffe weit von den Supertankern entfernt, die bis zu viermal mehr Fracht befördern können. Im Vergleich zu den sonstigen Schiffen aus russischer Produktion sind die geschätzt 70 Mio. Dollar teuren Tanker jedoch Riesen. So kommen die vier fertiggestellten Schüttgutfrachter auf je 10.000 Tonnen und der eine Chemikalientanker auf 8000 Tonnen.
Erste Werft für Großschiffe
Hersteller der russischen Aframax-Tanker ist der Schiffsbaukomplex (SSK) Swesda in Bolschoj Kamen. Die fernöstliche Stadt mit 40.000 Einwohnern beheimatet seit den 1950er Jahren das Fernöstliche Werk Swesda, in der u. a. atomar angetriebene U-Boote instandgesetzt und abgewrackt werden. An diesem Standort nahe der Metropole Wladiwostok begann 2009 der Bau einer zweiten, modernen Werft, die zunächst als russisch-südkoreanisches Joint Venture geplant war. Nach dem Ausstieg des Partners Daewoo im Jahr 2012 übernahm Rosneft die Rolle des Investors und die Kontrolle über das Vorhaben, das nicht zum Staatskonzern OSK gehört. Der Ausbau der Werft zum heutigen SSK begann 2016 und soll noch dieses Jahr fertig sein. Die Zahl der dort beschäftigten Menschen liegt mittlerweile bei 11.000, wobei hier auch die Zulieferer berücksichtigt sind.

Öltanker für Rosneft
SSK Swesda ist nach eigenen Angaben der erste und einzige Standort in Russland, an dem große Handelsschiffe gebaut werden können. Von 2019 bis Ende 2023 liefen dort insgesamt zwölf Schiffe vom Stapel, darunter mindestens vier 106 Meter lange Eisbrecher und vier Aframax-Tanker, von denen die ersten beiden bereits 2020 und 2021 ausgeliefert wurden. Insgesamt sollen zwölf Aframax entstehen, von denen zehn der staatliche russische Ölkonzern Rosneft bestellt hat.

Den Bau von Öltankern beherrschen auch andere russische Werften. So stellte die zu OSK gehörende Admiralitätswerft in St. Petersburg zwei Öltanker mit einer Tragfähigkeit von 70.000 Tonnen her. Die 260 Meter langen und eisfesten Schiffe wurde in den Jahren 2008 und 2009 mithilfe eines finnischen Ingenieursbüros gebaut. Zum Portfolio der Werft gehört auch ein 47.000-Tonnen-Tanker aus kroatischer Entwicklung. Drei ähnliche Schiffe entstehen zurzeit auch bei SSK Swesda.

Wie Industrieminister Denis Manturow Ende Mai mitteilte, liegen der Werft aktuell Aufträge bis 2037 über den Bau von 92 kleineren Schiffen der Eisklasse und 26 Großschiffen vor. Bei diesen handelt es sich neben den Aframax-Tankern um zwei Projekte speziell für den Transport von Öl und Gas über die Nordostpassage. 2020 begann der Bau von zwei Öltankern der Eisklasse Arc6 für Rosneft. Die ersten beiden dieser 69.000-Tonnen-Schiffe sollten 2022 fertiggestellt werden, allerdings hat erst im vergangenen Sommer das erste von ihnen das Trockendock verlassen. Das bedeutet, dass zumindest der Rumpf des Schiffes fertig ist.
Gastanker für Novatek
Zeitgleich verließ auch ein Flüssiggastanker der höheren Eisklasse Arc7 das Trockendock. Dabei handelt es sich um die wohl bedeutendste Schiffsreihe der von SSK Swesda, die die Werft im Auftrag von Novatek produziert. Der größte private russische Erdgaskonzern nutzt bereits ein gutes Dutzend solcher in Südkorea entwickelten und gebauten Gastanker für sein Flüssiggasprojekt Yamal LNG. Das Leitschiff der Yamalmax genannten Klasse ist die 2016 fertiggestellte „Christophe de Margerie“. Für den Betrieb seines neuen Flüssiggasprojekts Arctic LNG 2 hat Novatek 21 Schiffe der zweiten Generation dieser Gastanker bestellt, 15 davon bei SSK Swesda. Während die Lieferung von sechs Schiffen aus Südkorea wegen der westlichen Sanktionen ungewiss ist, hat die russische Werft bereits mit dem Bau von sechs der 300 Meter langen 81.000-Tonnen-Schiffe begonnen, wie sie im vergangenen Herbst mitteilte.

Die Auslieferung des ersten der Schiffe wurde bereits mehrmals verschoben und wird aktuell für Ende 2024 erwartet, wie die Wirtschaftszeitung Kommersant erfuhr. Ein Grund für die Verzögerung sei der Mangel an Arbeitern, der im russischen Fernen Osten besonders stark ausgeprägt sei. Daher habe Novatek, das auf die Gastanker dringend angewiesen ist, 200 seiner eigenen Mitarbeiter nach Bolschoj Kamen entsendet, um die Arbeit zu beschleunigen.

Ein weiteres Problem ist die Abhängigkeit von Importen, von der nicht nur einzelne Komponenten betroffen sind. SSK Swesda setze die Gastanker lediglich aus großen Modulen zusammen, die aus Südkorea angeliefert würden, beschrieb der Leiter des Wirtschaftsdiensts Infoline Michail Burmistrow bei einer Konferenz Ende 2022 die Produktion. Es sei also nicht möglich, russische Zulieferer in die Produktion einzubinden. Daher hänge auch die heimische Produktion der Schiffe komplett von den Südkoreanern ab.

Rekord-Eisbrecher
Das spektakulärste Vorhaben im Portfolio der Werft sind Eisbrecher der neuen Klasse Lider. Aus Russland stammen traditionell die größten und stärksten Eisbrecher der Welt. Bisher entstanden die nukleargetriebenen Schiffe der Klasse Arktika in der St. Petersburger Traditionswerft Baltisches Werk. Das aktuelle Modell 22220 ist 173 Meter lang, 33.500 BRT groß und verfügt über eine Leistung von 60 Megawatt. Anfang 2024 hat im Baltischen Werk der Bau des bisher fünften Exemplars der Reihe begonnen. Von der etwas kleineren, gleichnamigen Vorgängerreihe waren zwischen 1975 und 2007 insgesamt sechs Stück gebaut worden. Die geplanten Eisbrecher der neuen Klasse Lider sollen 209 Meter lang, 71.000 BRT groß und 120 Megawatt stark sein. Die Konstruktion des ersten Exemplars hat 2020 begonnen. Zunächst sollte sie 2027 abgeschlossen sein, aktuell wird eine Fertigstellung 2030 anvisiert.
Kapazitäten reichen nicht
Für das laufende Jahr prognostiziert die staatliche Leasinggesellschaft GTLK eine Produktion der russischen Werften von 74 zivilen Schiffen. Darunter seien 21 Tanker und Frachter. Der Bedarf an solchen Schiffen liege hingegen bei 32 Stück. Für 2025 und 2026 erwarten die Analysten keine Steigerung der Produktion, lediglich der Bedarf soll leicht zurückgehen, von derzeit insgesamt 112 zivilen Schiffen auf nur noch 95 pro Jahr. Laut der russischen Regierung fehlen zurzeit allein auf der Nordostpassage 30 von 57 nötigen Transportschiffen. Bis 2030 werde das Defizit nach dem aktuellen Produktionsplan auf 80 von dann 160 erforderlichen Schiffen wachsen.

Eine Studie, die das Beratungsunternehmen SBS für den Staatskonzern OSK Ende 2023 erarbeitete, konstatiert eine noch größere Kluft zwischen Kapazitäten und Bedarf. Unter der Annahme, dass die Hälfte der russischen Exporte auf Schiffen aus eigener Produktion befördert werden solle, müssten bis 2035 Frachtschiffe und Tanker mit einer Tragfähigkeit von insgesamt 66 Mio. Tonnen gebaut werden. Dieser enorme Bedarf, der 580 Aframax-Tankern entspricht, ergibt sich auch wegen des altersbedingten Ausscheidens von Schiffen aus der Handelsflotte. Um die Kapazitäten zu schaffen, müssten bis 2035 fast 2 Bio. Rubel, umgerechnet rund 21 Mrd. Euro, in die Modernisierung der Werften investiert werden, so die Studie. Mit den Geldern müsse, wie von der Regierung bereits angekündigt, eine weitere Werft für Großschiffe im Fernen Osten gebaut werden. Notwendig sei auch die Modernisierung der bestehenden Werften des Staatskonzerns OSK. Der räumte vor kurzem selbst ein, dass einige seiner Anlagen mehr als hundert Jahre alt sind.