Fokusanalyse

Konsumverhalten in Russland

Im vergangenen Jahrzehnt kam es nominal zu einer Verdoppelung des Einzelhandelsumsatzes in Russland. Hatte er sich 2013, im Jahr vor den ersten westlichen Sanktionen, auf 23,7 Bio. Rubel, damals 561 Mrd. Euro, belaufen, so lag der entsprechende Wert 2023 bei 47,4 Bio. Rubel, umgerechnet 521 Mrd. Euro, so die russische Statistikbehörde Rosstat. Die nominalen Verbraucherpreise waren im vergangenen Jahr aber ebenfalls doppelt so hoch wie 2013. Inflationsbereinigt änderte sich die Größe des Einzelhandelsmarktes in Russland im zurückliegenden Jahrzehnt also kaum.

Die realen Umsatzanteile verschoben sich zwischen 2013 und 2023 aber etwas zugunsten des Nicht-Lebensmittelhandels. Nominal entfielen im vergangenen Jahr 52% des gesamten Einzelhandels-umsatzes auf den Nicht-Lebensmittelhandel, ein Prozentpunkt weniger als 2013. Die Preise für Konsumgüter, die keine Lebensmittel sind, stiegen im betreffenden Zeitraum aber lediglich um 96%, während die Lebensmittel um das 2,1-fache teurer wurden. In der Folge war der Umsatz des Lebensmittelhandels 2023 real um ein Zehntel kleiner als 2013, während der Handel mit Nicht-Lebensmitteln um 6% schrumpfte.
Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 setzte der russische Lebensmitteleinzelhandel 2023 real 3% weniger um. Der reale Wert des zweiten Corona-Jahres 2021 wurde im Lebensmittelhandel aber um 1% überschritten. Der Handel mit Nicht-Lebensmitteln entwickelte sich in den vergangenen vier Jahren anders: Zum Jahr 2019 stieg er inflationsbereinigt um 1%. Gegenüber 2021 setzte der Nicht-Lebensmittelhandel real 3% weniger um.
Für den Lebensmittelhandel war also die Corona-Krise ein härterer Schlag als die 2022–23 verschärften Sanktionen des Westens, im Nicht-Lebensmittelsegment verhielt es sich aber umgekehrt. Experten wie Sergej Udalow vom Branchendienst Awtostat führen den starken Einbruch im Jahr 2022 vor allem auf den erneuten angebotsseitigen Schock auf dem Automarkt zurück, der stärker war als derjenige, den die Lieferkettenkrise während Corona verursacht hatte.

Im Jahr 2022 verließen sämtliche westliche Autohersteller den russischen Markt: Volkswagen, BMW, Mercedes, Ford, Stellantis, die Groupe PSA, die Allianz Renault-Nissan-Mitsubishi, Toyota, Honda, Mazda und Hyundai. Auch der Rückzug des schwedischen Möbelherstellers IKEA und der deutschen Baumarktkette Obi führte besonders in den Großstädten zu einem ähnlichen, doch weniger schweren und langfristigen Angebotsrückgang auf dem russischen Markt.

Auf der Nachfrageseite kam es weder 2020 noch 2022 zu einem tiefen Einbruch. Die verfügbaren Realeinkommen der Russen gingen laut Rosstat im ersten Corona-Jahr um 2% sowie im ersten Jahr der Sanktionen um 1% zurück. Da sie 2021 um 3,3% sowie 2023 um 5,4% stiegen, lagen sie im vergangenen Jahr um 4,3% über dem Wert von 2021. Den Wert von 2019 überschritten sie sogar um 5,6%. Der Wert des Vorsanktionsjahres 2013 konnte jedoch auch 2023 real nicht erreicht werden. Er wurde um 1,4% unterschritten.
Seit der Jahreswende 2022/23 verzeichnet das Verbrauchervertrauen aber insgesamt einen aufwärtsgerichteten Trend. Davon zeugen die Umfragen des Konsumforschers NielsenIQ, der 2021 als eigenständige russische Firma aus dem Londoner Marktforschungsunternehmen Nielsen ausgegliedert wurde. Waren russische Verbraucher bis einschließlich des 3. Quartals 2022 überwiegend pessimistisch gestimmt, so wendete sich im vorvergangenen Winter das Blatt. Seit dem 1. Quartal 2023 liegt der von NielsenIQ geführte Index des Verbrauchervertrauens stabil über dem Eckwert von 100 Punkten, was auf eine gestiegene Konsumfreudigkeit der Russen schließen lässt.

Im 4. Quartal 2023 kletterte der Verbrauchervertrauens-Index von NielsenIQ, wie bereits zwei Quartale früher, auf ein Mehrjahreshoch von 107 Punkten. Gegenüber dem Vorquartal verbesserte er sich um sechs Punkte. Die Umfrageteilnehmer bewerteten nicht nur ihre eigene finanzielle Lage, deutlich optimistischer, sondern kündigten auch an, Personal einstellen zu wollen.
  • 62% antworteten, dass sie im kommenden Jahr finanziell gut oder sehr gut dastehen würden, nach 57% im Vorquartal.
  • Zum Jahresschluss 2023 waren 66% der Befragten zuversichtlich, dass sie einen gut bezahlten Job finden würden. Im 3. Quartal waren es 63% gewesen.
  • 45% der Befragten äußerten zum Jahresende die Meinung, dass es jetzt die rechte Zeit sei, Anschaffungen zu machen. Im Vorquartal waren es um fünf Prozentpunkte weniger. Dies deckt sich mit den Berichten von Rosstat zu einer sich bessernden Einkommenslage.
Neben dem zunehmenden Optimismus bei den Verbrauchern stellen die NielsenIQ-Experten in ihrer Studie fest, dass sich die Verkaufszahlen inzwischen bei fast allen Konsumwaren-Kategorien vom Einbruch des Jahres 2022 erholt hätten mit Ausnahme von Kochzutaten, Gewürzen, Saucen und Speiseölen.

Gleichzeitig habe sich die Angebotsbreite nicht nur stabilisiert, sondern wachse. Dies sei in den Kategorien Haustierpflege, Tabakwaren, alkoholische Getränke, Energy-Drinks, Molkereierzeugnisse, Schokoladenriegel, Körper- und Haarpflege sowie Kinderprodukte besonders ausgeprägt. Viele der insgesamt 10.406 neuen Marken, die 2023 auf den Markt kamen, entstanden in diesen Bereichen.

Vom Rückzug einiger westlicher Brands (Coca-Cola, PepsiCo, McDonald’s, Starbucks, Valio) aus Russland hätten nicht nur russische Marken wie beispielsweise Dobryj (Erfrischungsgetränke) profitiert, stellt NielsenIQ in einer Präsentation klar. Auch türkische, chinesische und indische und südkoreanische Brands gehörten zu den Gewinnern. Bekanntlich habe etwa der türkische Hersteller von Seife, Rasiergel und -schaum Evyap seine Marktposition erheblich verbessern können.

Analysten des Moskauer Markt- und Meinungsforschers Romir bestätigen die von NielsenIQ präsentierten Befunde. Der Romir-Index des Verbrauchervertrauens, der auf Verbraucherumfragen zur aktuellen Lage und Perspektiven basiert, zeigt inzwischen auch deutlich nach oben. Hatte der Index im Januar 2023 bei -1 Punkt gelegen, erreichte er im Oktober mit 1 Punkt wieder den positiven Bereich. Im Januar betrug er sogar 5 Punkte.

Von einer Sparneigung haben Anfang 2024 weniger Verbraucher berichtet als ein Jahr zuvor, schreibt das Wirtschaftsmagazin Kommersant Dengi mit Verweis auf eine Präsentation von Romir. Der Anteil derjenigen, die auf den Einkauf teurer oder langlebiger Güter verzichteten, habe sich im Verlauf des Jahres von 44% auf 39% verringert. Bei Urlaubs- und Freizeitaktivitäten sparten gegenwärtig 37%, nach 44% im Vorjahr. Bei Lebensmitteln und Alltagsartikeln sähen sich nur noch 18% der Russen zum Sparen gezwungen, um drei Prozentpunkte weniger als Anfang 2023.

Dem Wohlstandsindex von Romir zufolge hat sich die Lage auf dem Konsumgütermarkt in Russland weitgehend stabilisiert. Der an den sogenannten Engels-Koeffizient angelehnte Indikator zeigt die Veränderung des Anteils der von Haushalten gekauften Lebensmittel an ihren Gesamtausgaben. Dieser lag in diesem Februar bei 30,5%, um drei Prozentpunkte tiefer als im Februar 2023, aber um 1,1 Prozentpunkte höher als im Februar 2021. Länder mit einem Engel-Koeffizient von unter 30% werden von den Vereinten Nationen (UNO) als „reich“ bewertet. Länder mit einem Engel-Koeffizient zwischen 30% und 40% charakterisiert die UNO als „wohlhabend“.
Quellen: Rosstat 1, 2, 3, Vedomosti, NielsenIQ, Kommersant, Romir (alle RU), ROM Economics (EN)