Fokusanalyse

Analysten erwarten Wachstumsrückgang in Russland

Von Anfang August bis Anfang Dezember hat der russische Rubel gegenüber dem US-Dollar rund ein Fünftel seines Wertes verloren, obwohl die russische Zentralbank in diesen vier Monaten ihren Leitzins in zwei Schritten von 18 auf 21% anhob, einen langjährigen Höchststand. Die hohen Zinsen in Russland dürften dazu beigetragen haben, dass die Pariser OECD in ihrer Wirtschaftsprognose für Russland weiterhin einen Einbruch des Wachstums auf nur noch 1,1% erwartet.

Mit einem so starken Rückgang des Wachstums rechnen aber nur wenige Beobachter. Die von der Nachrichtenagentur Reuters Anfang Dezember befragten Analysten (vor allem russische Banken) erwarten 2025 immerhin noch ein Wachstum von 1,8%. Angesichts der Belastungen der russischen Wirtschaft durch die Sanktionen und den hohen Leitzins schließen einige Experten allerdings nicht aus, dass die russische Wirtschaft bei einer Verschlechterung der Rahmenbedingungen in eine Rezession abgleiten könnte.
Die russische Regierung geht in ihrer kürzlich vom Parlament gebilligten Haushaltsplanung weiterhin davon aus, dass das reale Bruttoinlandsprodukt nach einem Anstieg um 3,9% im laufenden Jahr im kommenden Jahr noch um 2,5% wächst. Vier Wochen vor Jahresende wird ein Wachstum von rund 4% im Jahr 2024 tatsächlich zunehmend wahrscheinlich. In den ersten 10 Monaten war das reale Bruttoinlandsprodukt nach Schätzung des Wirtschaftsministeriums 4,1% höher als im Vorjahreszeitraum.

Allerdings hat sich Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion seit Juni weitgehend „im Seitwärtsgang“ entwickelt. Im Verlauf der ersten fünf Monate ist sie zwar noch kräftig gestiegen. Im Sommer sank sie aber vorübergehend. Erst im September und Oktober war sie nach ersten Berechnungen von Regierung und Konjunkturforschungsinstituten wieder ähnlich hoch wie im Mai.

Weniger Wachstum
Laut der Schätzung des Wirtschaftsministeriums stieg die gesamtwirtschaftliche Produktion im Oktober 2024 im Vorjahresvergleich zwar um 3,2%. Im Vergleich zum Vormonat September schwächte sich aber der saisonbereinigte Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts nach ersten Berechnungen des Ministeriums im Oktober allerdings auf nur noch 0,1% ab. Das VEB-Institut schätzt in seinem Wochenbericht den Produktionsanstieg im Oktober gegenüber September mit 0,2% kaum höher ein als das Ministerium.

Laut den meisten Prognosen wird das Wachstum der russischen Wirtschaft im nächsten Jahr mit 1,5 bis 2% deutlich niedriger sein als 2024. Das renommierte Moskauer Center for Macroeconomic Analysis and Short-term Forecasting (CMASF) senkte Ende November die Prognosespanne des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2025 von 2,4 bis 2,7% auf 1,7 bis 2,0%. In dieser Spanne liegen mit jeweils 1,8% auch die Mitte November veröffentlichte Prognose der EU-Kommission sowie die Durchschnittsprognose der Analysten bei einer Anfang Dezember durchgeführten Reuters-Umfrage.

Wachstum schwächer als in G-20
Trotz der jüngsten Währungsturbulenzen und der hohen Zinsen haben sich in der monatlichen Reuters-Umfrage die Prognosen der Analysten für das Wachstum der russischen Wirtschaft kaum verändert. Anfang Dezember erwarteten sie für das zu Ende gehende Jahr 2024 im Durchschnitt weiterhin einen Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts von 3,8%. Ihre durchschnittliche Wachstumsprognose für 2025 stieg geringfügig von 1,7 auf 1,8%.

Die jüngsten Prognosen der Pariser OECD liegen weiterhin innerhalb der Prognosespannen, die die russische Zentralbank schon Ende Juli veröffentlichte. Ihre Wachstumsprognose für 2024 erhöhte die OECD jetzt noch etwas weiter von 3,7 auf 3,9%.
Im nächsten Jahr rechnet die OECD allerdings weiterhin mit einem Einbruch des Wachstums in Russland auf nur noch 1,1%. Das Wachstum der russischen Wirtschaft würde damit im nächsten Jahr nur ein Drittel des Wachstums in den G-20 Staaten von weiterhin 3,3% erreichen. Hinter dem schwachen Wachstum im Euro-Raum (1,3%) bliebe Russland aber kaum zurück.

Russische Banken zu Wachstum und Inflation
Der Chef-Volkswirt der Wneschekonombank und frühere Stellvertretende Wirtschaftsminister, Andrei Klepach, hatte bereits bei einem Wirtschaftsforum am 7. November seine bisherige Wachstumsprognose für 2025 von 2,6% auf „bestenfalls rund 2%“ korrigiert. Die Ausgaben für große nationale Investitionsprojekte würden die Wirtschaft erst im dritten und vierten Quartal 2025 erreichen. Folglich werde ihr Wachstumseffekt hauptsächlich im Jahr 2026 eintreten. „Deshalb wird 2026 besser als 2025, das wage ich vorherzusagen“, sagte Klepach.

2025 erwartet auch Andrei Kostin, Chief Executive Officer der zweitgrößten Bank Russlands, der Universalbank VTB, eine deutliche Abschwächung des Wachstums. Kostin prognostizierte Anfang Dezember in einem Reuters-Interview für 2025 einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 1,9%. Der Leitzins dürfte nach seiner Einschätzung am 20. Dezember um zwei Prozentpunkte auf 23% angehoben werden.
Kostin kritisierte gleichzeitig die Zinspolitik der Zentralbank. Die aktuelle Inflationsrate erfordere keinen Leitzins, der rund drei Mal so hoch sei wie der Preisanstieg. Er glaube, dass eine Inflationsrate von 8,5% für Russland „nicht kritisch“ sei. Angesichts der hohen Rüstungsausgaben Russlands und der Sanktionen dürfte nach seiner Einschätzung der Einsatz des Leitzinses bei der Steuerung der Inflation nicht sehr effektiv sein. Der Kurs des Rubels wird sich nach Ansicht Kostins nach einer volatilen Phase bei rund 100 Rubel je US-Dollar stabilisieren.

Wirtschaft am Wendepunkt
Dr. Janis Kluge stellt in einer Analyse der Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“ folgende Trends der Entwicklung der russischen Wirtschaft heraus: „In Teilen der russischen Wirtschaft hat die hohe staatliche Nachfrage in den vergangenen zwei Jahren einen Wirtschaftsboom ausgelöst. Die Einkommen sind stark gestiegen, und es herrscht Aufbruchstimmung.“ Außerdem habe sich die Produktion von Rüstungsgütern laut einer CMASF-Analyse seit 2021 verdreifacht. Die Ausweitung der Industrieproduktion sei aber fast ausschließlich auf Sektoren entfallen, die mit der Rüstungsindustrie verbunden seien.
Aufgrund des Arbeitskräftemangels und der westlichen Sanktionen sei das Wirtschaftswachstum im Laufe dieses Jahres jedoch zum Erliegen gekommen, während sich eine hartnäckige Inflation eingestellt habe, so Kluge. Wie groß die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für Russland 2025 tatsächlich werden, wird nach Einschätzung Kluges außerdem vom Ölpreis abhängen.

„Ein Einbruch der Exporterlöse würde die Situation beträchtlich verschärfen. Die Zentralbank könnte ihn kaum abfedern, weil der Großteil der Währungsreserven durch Sanktionen eingefroren ist. Damit wären eine starke Rubelabwertung, ein neuer Schub für die Inflation und eine Rezession unausweichlich.“
Kluge macht auch darauf aufmerksam, dass die Löhne in Russland rapide gestiegen sind. Das habe für Optimismus in der Bevölkerung gesorgt. Es sei deutlich mehr für Konsumgüter ausgegeben worden. Laut dem Statistikamt Rosstat waren die Reallöhne im September 2024 um 8,4% höher als im Vorjahresmonat. In den ersten neun Monaten übertrafen sie ihr Vorjahresniveau um 9,0%. Nominal waren die Löhne im September und auch in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 rund 18% höher als im Vorjahr.

Zins-Druck auf Wirtschaft
Der Russland-Experte des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche, Vasily Astrov, äußerte sich Ende November in einem Spiegel-Interview zur Entwicklung der russischen Wirtschaft. „Die Zentralbank hat die Situation nicht mehr voll im Griff. Seit Mitte 2023 versucht sie, die steigenden Preise mit immer höheren Zinsen zu bändigen. Doch die Inflation hat nicht nachgelassen, sondern sich teilweise sogar noch beschleunigt.“

Zu den Gründen für die Unwirksamkeit der Zinserhöhungen sagte Astrov, zum einen sei eine effiziente Steuerung der Kreditvergabe unmöglich, weil staatlich subventionierte Kredite weit unter dem Marktwert vergeben würden. Zum anderen gebe es „strukturelle Inflationstreiber“. Dazu gehöre etwa das kräftige Wachstum der Löhne. Sie stiegen pro Jahr real um 8% bis 9%.

Der „Druck auf die Realwirtschaft“ nehme zu, sagte Astrov. Mit den Zinserhöhungen seien für viele Firmen Kredite sehr teuer geworden. Die Zahl der Unternehmen mit Zahlungsausfällen sei in Russland vom zweiten auf das dritte Quartal 2024 um rund 70% gestiegen.

Die Langversion dieses Artikels von Klaus Dormann, dem langjährigen Analytiker der Ruhrgas AG, erschien zuerst im Online-Magazin Ostexperte.