Fokusanalyse

Gehaltsentwicklung in Russland

Das reale inflationsbereinigte Durchschnittsgehalt in Russland stieg 2023 um 7,8%, so stark wie seit 2018 nicht mehr. Damals war es um 8,5% gewachsen. Seit dem Vorsanktionsjahr 2013 haben sich die Realgehälter fast ununterbrochen positiv entwickelt, selbst im ersten Corona-Jahr 2020 und im Umbruchsjahr 2022, als das Wachstum 3,8% sowie 0,3% betrug. Im Jahr 2015, als die Folgen der ersten westlichen Sanktionen deutlich zu spüren waren, war es jedoch zu einem signifikanten Einbruch um 9% gekommen.

Wenn man sich an diesen Zahlen der russischen Statistikbehörde Rosstat orientiert, so verdiente ein russischer Beschäftigter 2023 im Schnitt real um 27% mehr als zehn Jahre früher. Seit dem Vor‑Corona-Jahr 2019 verbesserte sich die Durchschnittsentlohnung real um 7%. Noch aussagekräftiger dürfte sein, dass sich das Bruttomediangehalt pro Monat von 420 Euro im Jahr 2019 vier Jahre später um 16% auf 489 Euro vergrößerte, obwohl der Rubel in diesem Zeitraum um 26% abwertete: War ein Euro im Durchschnitt des Jahres 2019 noch 72,5 Rubel wert, waren es 2023 bereits 91,6 Rubel.
Der sich fortsetzende Wertverfall des Rubel gehört zu den Gründen für das schnelle Lohnwachstum in Russland. Denn er macht in denjenigen Wirtschaftsbereichen Gehaltserhöhungen notwendig, in denen viele Gastarbeiter, vor allem aus Zentralasien, beschäftigt sind und einen großen Teil des in Russland verdienten Geldes in ihre Heimatländer schicken. In einem noch höheren Maße sind für die steigenden Löhne und Gehälter der langfristige Bevölkerungsschwund sowie seit 2020 zunehmend die Maßnahmen des Staates zur Stützung der Geringverdiener verantwortlich.

Russland habe seine Arbeitskräftereserven praktisch erschöpft, sodass die Unternehmen durch Gehaltserhöhungen, Prämien und Boni um Mitarbeiter werben müssten, sagt etwa Pawel Selesnjow, Dekan der Fakultät für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Finanzuniversität der russischen Regierung. Für eine Entspannung des Lohnwettbewerbs im laufenden Jahr sehe er keine Voraussetzung. Ljudmila Iwanowa-Shwez von der Plechanow-Wirtschaftsuniversität in Moskau erwartet, dass die Gehälter 2024 am stärksten im öffentlichen Sektor steigen könnten, nominal um bis zu 10% sowie real um 4-5%.
Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Arbeitskräftemangels erscheint nicht mehr als positiv, dass die Arbeitslosigkeit mit 2,8% der erwerbsfähigen Bevölkerung im Februar einen neuen Tiefststand erreicht hat. Nach Hochrechnungen des Wirtschaftsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften könnten der russischen Wirtschaft inzwischen knapp fünf Millionen Arbeitskräfte fehlen. Im Dezember bezeichnete auch die Alfa-Bank in ihrer makroökonomischen Analyse den insbesondere seit Mitte 2023 ausgetrockneten Arbeitsmarkt als ein zentrales Wachstumshemmnis auf Jahre hinaus. Der Bank vorliegende Umfragen zeigen, dass es den Unternehmen seit 2020 an geringqualifizierten Arbeitern sowie seit 2021 an Bedienungspersonal besonders stark mangele.

Den stärksten Anstieg der Gehälter hätten im Jahr 2023 laut Rosstat Maschinenbau- und Engineering-Unternehmen ausgewiesen, nominal um 18% sowie real um 10%. In weniger wissensintensiven Wirtschaftsbereichen fiel die Kostensteigerung im zurückliegenden Jahr etwas geringer aus. Im Groß- und Einzelhandel zum Beispiel wuchsen die Löhne und Gehälter nominal um 13% sowie real um 7%.

Die stark steigenden Löhne und Gehälter im Maschinen-, Anlagen-, Fahrzeug- und Gerätebau sowie in anderen Branchen des verarbeitenden Gewerbes führen Experten darauf zurück, dass sie überdurchschnittlich viele qualifizierte Fachkräfte beschäftigen müssen und einer immer stärkeren Konkurrenz von Seiten der boomenden Rüstungsindustrie ausgesetzt sind. Daher gehe mit dem akuten Fachkräftemangel gegenwärtig ein großer Kostendruck einher.

Trotzdem bewegten sich die durchschnittlichen Löhne und Gehälter im verarbeitenden Gewerbe auch im vergangenen Jahr noch auf einem weit tieferen Niveau als im IT- und Telekommunikations-bereich. Im Durchschnitt belief sich der Bruttomonatslohn in der verarbeitenden Industrie auf 71.300 Rubel (778 Euro), um 3% als der branchenübergreifende Durchschnitt (73.700 Rubel, oder 805 Euro). Im Bereich „Informations- und Telekommunikationstechnik“ lag der entsprechende Wert bei 130.300 Rubel (1423 Euro), um 77% höher als der Gesamtdurchschnitt. Nur im Finanzsektor sowie dem oft im unwirtlichen arktischen Norden stattfindenden Bergbau waren die monatlichen Löhne und Gehälter noch höher: 161.100 Rubel (1759 Euro) bzw. 130.800 Rubel (1428 Euro).
Laut Arbeitsminister Anton Kotjakow gehörten neben dem verarbeitenden Gewerbe derzeit die Bereiche Bau, Verkehr und Gesundheit zu den personalhungrigsten. Die Fachkräftekrise dürfte auch mittel- und langfristig ein Problem bleiben. Vize-Regierungschefin Tatjana Golikowa warnt, dass der Arbeitskräftebedarf bis Ende des laufenden Jahrzehntes weiter steigen werde, weil die 1990er Jahre geburtenschwach waren und dementsprechend die Zahl der Menschen in dem beschäftigungs-relevanten Alter von 30-39 Jahren schrumpfe.

Nikolaj Achapkin von der Akademie der Wissenschaften und Alexander Safonow von der Finanzuniversität der russischen Regierung in Moskau weisen darauf hin, dass der Fachkräftemangel bereits das Wirtschaftswachstum in Russland bremse. Wenn den Unternehmen Beschäftigte fehlten, könnten sie nicht genug Waren und Dienstleistungen anbieten, um die unter Wachstums-bedingungen steigende Nachfrage zu befriedigen. Wenn Güter knapp würden, könne weniger in neue Anlagen, Technologien und Produkte investiert werden. Gleichzeitig treibe das Fachkräfte-defizit Erzeuger- und später auch Verbraucherpreise in die Höhe, erklären die Forscher.

So sieht es auch die Russische Zentralbank. Ihren branchenübergreifenden Umfragen zufolge meldete in den zurückliegenden Quartalen die meisten Unternehmen einen Arbeitskräftemangel. Die Mehrheit von ihnen musste seit 2023 Gehaltserhöhungen in Kauf nehmen. Der Wettbewerb um Arbeitskräfte werde selbst im Falle eines geringeren Einstellungsbedarfs stark bleiben, urteilen die Zentralbank-Analysten. Das werde das strategische Ziel unterlaufen, die Arbeitsproduktivität mindestens so schnell zu erhöhen wie die Entlohnung. Unter diesen Vorzeichen werde sich die Zentralbank gezwungen sehen, sich an ihren straffen geldpolitischen Kurs zu halten. Im Klartext: Die Kreditzinsen müssten noch länger hoch bleiben.
Ein weiterer Faktor des Lohn- und Preiswachstums in Russland ist die seit der Corona-Krise 2020–21 zunehmend sozial orientierte Wirtschaftspolitik des Staates. Das gesetzlich vorgeschriebene Mindestgehalt ist in den vergangenen Jahren spürbar erhöht worden, von 11.280 Rubel (156 Euro) im Monat im Jahr 2019 auf 19.242 Rubel (derzeit umgerechnet 194 Euro) im laufenden Jahr. Seit 2021 wird die Höhe des gesetzlichen Mindestgehalts anhand des Mediangehalts festgelegt.

Die realen Erhöhungen des Mindestgehalts sind einer der Gründe dafür, dass die Dynamik der Löhne und Gehälter im vergangenen Jahrzehnt deutlich positiver war als die Einkommensentwicklung. Es fällt auf, dass die verfügbaren Realeinkommen der russischen Haushalte trotz der erhöhten Sozial-leistungen für einkommensschwache Familien auch 2023 noch um 1,4% unter dem Wert von 2013 lagen, obwohl sie gegenüber 2022 um 5,4% wuchsen.
Laut Sozialforschern wie beispielsweise Swetlana Misichina von der Higher School of Economics habe zur Diskrepanz zwischen der Lohn- und Einkommensdynamik vor allem beigetragen, dass die nicht besteuerten und daher von der offiziellen Statistik nicht erfassten Einkommen im informellen Sektor 2014–23 zurückgegangen waren. Auch die Einkommen aus Eigentum und aus unternehmerischen und gewerblichen Tätigkeiten waren in den betrachteten zehn Jahren rückläufig.

Quellen: Rosstat 1, 2, 3, 4, 5, 6, Rossijskaja gaseta, Russ. Akademie der Wissenschaften, Tass 1, 2, Russ. Zentralbank, Russ. Parlament