Fokusanalyse

Russische Gasexporte

Die beiden wichtigsten russischen Exportgüter haben sich in den vergangenen Jahren unterschiedlich entwickelt. Beim Erdöl übertrafen die Exporte 2023 mit 234 Mio. Tonnen das Resultat des Vorkrisenjahres 2021, als es 230 Mio. Tonnen waren. Beim Erdgas hingegen brachen sie seitdem um mehr als 40% ein, von rund 249 Mrd. Kubikmeter auf nur noch 145 Mrd. m³.

Krise beim Pipelinegas
Für den Rückgang sorgte der bisher beste Kunde Russlands, die Europäische Union (EU). 2021 waren auf die EU zwei Drittel aller russischen Exporte über Gaspipelines entfallen, in Zahlen: 137 Mrd. von 207 Mrd. m³ Pipelinegas. Im vergangenen Jahr waren es nur noch 25 Mrd. m³ bzw. ein Viertel.
Die Pipeline-Exporte in die übrigen Länder gingen ebenfalls zurück, von insgesamt 80 Mrd. auf knapp 75 Mrd. m³ Erdgas. Zu den wichtigsten Abnehmern gehört noch die Türkei, die im vergangenen Jahr 21,3 Mrd. m³ russisches Gas importierte. Das lag unter dem Niveau der Vorkrisenjahre von 26-28 Mrd. m³. Neben dem Pipelinegas, das durch das Schwarze Meer in die Türkei gelangt, sind in diesen Zahlen auch Flüssiggaslieferungen enthalten, die die türkische Statistik nicht gesondert anführt.
Unter den großen Abnehmern von russischem Pipelinegas zeigte nur China eine positive Dynamik. 2023 bezog es 22,7 Mrd. m³ Erdgas über die gemeinsame Pipeline Power of Siberia. 2021 waren es 10,4 Mrd. gewesen.

EU-Kunden heute
Anders als Erdöl unterliegt russisches Erdgas bisher keinen EU-Sanktionen. Einige Mitgliedsländer sind noch immer von russischem Pipelinegas abhängig. So bezogen im vergangenen Jahr Österreich 6 Mrd., die Slowakei 6,5 Mrd. und Ungarn 1 Mrd. m³ russisches Gas über die Ukraine-Route, schreibt das Brüsseler Nachrichtenportal Euractiv. Geringere Mengen gelangen auch noch über die Türkei-Route nach Mitteleuropa, wobei Ungarn mit jährlich 3,5 Mrd. m³ überwiegend über sie versorgt wird. In Österreich kamen 65% der – insgesamt sinkenden – Gasimporte 2023 aus Russland. In einzelnen Monaten wie Dezember 2023 und Januar 2024 erreichte der Russland-Anteil sogar 98% und 97%.

Deutsche Gaswende
Freiwillig auf russisches Gas verzichtet hat vor allem Deutschland. 2021 waren auf die größte europäische Volkswirtschaft ein Drittel von Russlands Gasexporten in die EU und ein Fünftel seiner Gasexporte insgesamt entfallen. Heute bezieht Deutschland sein Gas vor allem aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien. Russlands Anteil liegt nach offiziellen Angaben bei Null Prozent.
Gashandel als Eisbrecher
Die Bedeutung des deutsch-russischen Gashandels ging über den wirtschaftlichen Nutzen weit hinaus. Zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg war es die Bundesrepublik, die mit den Erdgas-Röhrengeschäften den Osthandel eröffnete und die damalige Sowjetunion erstmals in eine internationale Lieferkette einband. Der 1970 geschlossene „Eisbrecher“-Vertrag sah die Lieferung von 1 Mrd. m³ Gas ab 1973 und 3 Mrd. m³ ab 1978 nach Bayern vor. Bezahlt wurde das Geschäft mit 1,2 Mio. Tonnen Großrohren für neue Gaspipelines, deren Bau zudem von deutschen Banken mit günstigen Krediten unterstützt wurde.

Aufstieg zum Versorger Europas
In den folgenden Jahren wurde Moskau zum wichtigsten Gaslieferanten Europas. 1973 lieferte der staatliche Gas-Exportmonopolist Gazprom 6,8 Mrd. m³ Gas nach Europa, wobei hier auch die damaligen Länder des Warschauer Pakts berücksichtigt sind.
Den höchsten Wert erreichten die russischen Lieferungen 2018 mit 200,8 Mrd. m³. Die Pandemie führte 2020 zu einem deutlichen Rückgang, der sich 2021 bis auf 168 Mrd. m³ fortsetzte. Damals entfielen 40% der Pipelinegas-Importe der EU auf Gazprom.

In Deutschland, das seit 2011 mit der Ostseepipeline Nord Stream über eine direkte Verbindung mit Russland verfügte, erreichte der Anteil bis zu zwei Drittel. Anfang 2022 waren es 55%. Über das gesamte Jahr machte das russische Gas rund 20% der deutschen Importe aus. 2023 floss kein Gas mehr durch die mittlerweile zerstörte Pipeline. Berücksichtigt man auch Flüssiggas, dessen Transportwege schwieriger nachzuvollziehen sind, dürfte Deutschland noch rund 4% seiner Gasimporte indirekt aus Russland beziehen, schätzte vergangenes Jahr der Brüsseler Wirtschafts-Thinktank Bruegel.
Einbruch der Exporterlöse
Das Gas habe für die russische Staatskasse niemals die gleiche große Bedeutung gehabt wie das Öl, konstatiert eine Studie der Columbia University in New York. Die Gasexporte seien eher eine Frage der Geopolitik gewesen. Der Wegfall großer Exportmengen in Richtung Europa werde vor allem für die Unternehmen der russischen Gaswirtschaft schmerzhaft sein, insbesondere Gazprom, so die Forscher.
Laut dem Thinktank Bruegel belief sich der Wert der russischen Gaslieferungen in die EU im vergangenen Jahr auf 18,1 Mrd. Dollar. In der Energiekrise 2022 waren es 51 Mrd. Dollar, im Jahr davor 25,8 Mrd. Dollar. Die Erlöse der russischen Gasbranche dürften 2023 mit 71 Mrd. Dollar weit unter Vorkrisenniveau von 101 Mrd. Dollar im Jahr 2021 liegen, schrieb der Wirtschaftsberater Yakov & Partners (ex McKinsey in Russland) im vergangenen Jahr. Im Ausnahmejahr 2022 hatten stark gestiegene Gaspreise die Erlöse auf 165 Mrd. Dollar hochschnellen lassen.


Erholung nur mit Exportwende
Kurzfristig sehen Analysten keine Besserung. 2025 dürften die Erlöse nur leicht auf 73 Mrd. Dollar steigen, das Niveau von 2021 werde erst 2030 mit 97 Mrd. Dollar annähernd erreicht. Allerdings stünden selbst diese zurückhaltenden Aussichten unter dem Vorbehalt, dass Russland seine Exportvorhaben nach China und beim Flüssiggas umsetzt:

  • China: Die bisher einzige Gaspipeline von Russland nach China, Power of Siberia (Kraft Sibiriens) soll bis 2025 ihre volle Exportleistung erreichen, die bei 38 Mrd. m³ Erdgas pro Jahr liegt. Eine zweite Pipeline, Power of Siberia 2, ist in Planung, der Vertragsabschluss lässt aber seit Jahren auf sich warten. Zusammen mit einer neuen Transitpipeline durch die Mongolei steigt die russische Pipeline-Kapazität nach China im Idealfall auf 100 Mrd. m³ Gas pro Jahr, sagt die russische Regierung. Yakov & Partners schätzt, dass die vollständige Umsetzung der Pläne bis 2030 eine Steigerung der Exporte nach China auf 80 Mrd. m³ pro Jahr erlauben werde, was nur einen Teil der EU-Exporte ersetzen würde. Zudem dürfte China auch in Zukunft niedrigere Preise für das russische Gas zahlen als die Europäer, merkt die Columbia-Studie an.

  • Flüssiggas (LNG): Im Gegensatz zum Pipelinegas bewegten sich die russischen Exporte von LNG 2023 mit rund 45 Mrd. m³ in etwa auf dem Niveau der Vorjahre. Die EU bezog davon knapp 18 Mrd. m³, Hauptabnehmer waren Spanien (6,7 Mrd. m³), Belgien (6,6 Mrd. m³) und Frankreich (4,7 Mrd. m³). Mögliche Sanktionen und immer strengere Klima-Vorgaben werden Russland dazu zwingen, andere Abnehmer für sein LNG zu finden, erwarten die Forscher der Columbia University. Zugleich treibt das Land große LNG-Projekte voran, die seine Exportkapazität bis 2030 auf rund 120 Mrd. m³ verdreifachen würden. Russland wäre damit der drittgrößte LNG-Exporteur der Welt, nach Katar und den USA, bemerkt der Gas-Analyst der Internationalen Energieagentur IEA Greg Molnár. Allerdings wären dafür Investitionen in Höhe von 60-70 Mrd. Dollar allein in Verflüssigungsanlagen nötig. Dies und der fehlende Zugang zu westlichen Technologien dürfte die russischen LNG-Ambitionen bremsen, so der Experte.
Auch Gasproduktion fällt
Die sinkenden Exporte haben auch zu einem Rückgang der Gasproduktion in Russland geführt. Sie belief sich im vergangenen Jahr auf 636,7 Mrd. m³ Gas, nach 673,8 Mrd. m³ im Vorjahr. 2021 waren es 763 Mrd. m³. Rund drei Viertel der Produktion gelangen auf den Binnenmarkt. Neben den Export-Vorhaben soll auch ein steigender Verbrauch im Inland helfen, die russische Gasproduktion aufrechtzuerhalten.
Hoffen auf Eigenverbrauch
Im vergangenen Jahr belief sich der Gasverbrauch in Russland auf 500 Mrd. m³. Das war zwar 2,8% mehr als im Vorjahr (487 Mrd. m³), das hohe Niveau 2021 von 516 Mrd. m³ wurde aber nicht erreicht. Potenzial zur weiteren Steigerung des russischen Verbrauchs sieht Gazprom beim Ausbau der Gasversorgung der Bevölkerung. Zurzeit sind rund 74% der Gemeinden im Land an das Gasnetz angeschlossen. Technisch möglich ist ein Anschluss von 82,9%, was Gazprom bis 2030 umsetzen will. Dadurch würde der Gasverbrauch um 20 Mrd. m³ pro Jahr steigen, erklärte Gazprom-Vizechef Oleg Aksjutin. Den Umfang der dafür nötigen Investitionen schätzte Gazprom allen für den Zeitraum 2021-2025 auf rund 1,3 Bio. Rubel (13 Mrd. Euro). Weitere 10 Mrd. m³ an jährlichem Mehrverbrauch könnte die Umstellung von mehr Autos und Zügen auf Gasantrieb bringen, so Aksjutin. Nicht zuletzt solle der Ausbau der heimischen Gasverarbeitung eine Verwendungsmöglichkeit für weitere 150 Mrd. m³ russischen Erdgases schaffen.

Mit mehr Lieferungen an russische Kunden will Gazprom auch seine eigene Finanzlage langfristig stabilisieren. Der Konzern erwartete Ende 2023 einen Gewinn vor Steuern von 2,2 Bio. Rubel (22 Mrd. Euro), wovon etwa die Hälfte auf das Ölgeschäft entfällt. 2022 belief sich der Gewinn auf 3,6 Bio. Rubel. In Euro gerechnet ist der Rückgang noch größer, da die russische Währung seit 2022 stark an Wert eingebüßt hat.