Fokusanalyse

Kleine und mittlere Unternehmen in Russland

Im Jahr 2022 trugen kleine und mittlere Unternehmen 21% zum russischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei, genauso viel wie 2019 und 2020. 2021 sowie 2018 hatte dieser Wert bei 20% gelegen, 2017 bei 22%. Diese Daten der russischen Statistikbehörde Rosstat zeigen, dass das Gewicht der Mittelständler in Russland weit geringer ist als in den meisten Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OSZE). In den 38 OSZE-Staaten entfallen auf kleinere und mittlere Unternehmen zwischen der Hälfte und drei Vierteln der Bruttowertschöpfung.
Im Februar 2024 waren 6,4 Mio. Einheiten in dem vom Föderalen Steuerdienst geführten Register für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) eingetragen. Von diesen waren 2,3 Mio. (36%) juristische Personen. Bei den restlichen 4,1 Mio. Einträgen handelte es sich um Einzelunternehmer. In den 2,3 Mio. Kapitalgesellschaften mit KMU-Status waren 12,4 Mio. Menschen beschäftigt. Die Einzelunternehmer beschäftigten weitere 2,7 Mio. Arbeitnehmer. Zudem waren laut dem Föderalen Steuerdienst 9,7 Mio. Menschen in Russland als Selbständige berufstätig.

Juristische Personen, Einzelunternehmer und Selbständige, die als KMU gelten, genießen eine Reihe von Erleichterungen, die sie finanziell entlasten, ihren Verwaltungsaufwand verringern und ihre Vertriebschancen erhöhen sollen. Die wohl wichtigste Vergünstigung ist der ermäßigte Beitragssatz in der Sozialversicherung, der für KMU seit dem Corona-Ausbruch im Jahr 2020 anstatt 30% bei 15% der ausbezahlten Mitarbeiterlöhne liegt, allerdings nur für den Teil, der den Mindestlohn in monatlicher Höhe von 19.242 Rubel (193 Euro) übersteigt. Außerdem sollen KMU bei der Auftragsvergabe durch staatsnahe Konzerne Vorrang eingeräumt werden.
Darüber hinaus profitieren Unternehmen mit KMU-Status von dem seit März 2022 geltenden Moratorium für planmäßige technische Kontrollen und Inspektionsbesuche durch Evaluierungs-behörden. In seiner Rede an die Föderationsversammlung am 29. Februar 2024 kündigte Russlands Präsident Wladimir Putin einen dauerhaften Verzicht auf regelmäßige Unternehmensprüfung ab 2025 an. Die Kontrollen sollten nach Möglichkeit durch Vorbeugungsmaßnahmen ersetzt werden. Wo Risiken bestehen, sollte anhand deren Kalkulation über Kontrollen entschieden werden, so Putin.

Im Juni 2023 hatte der russische Staatschef die Regierung öffentlich angewiesen, weitere Mechanismen zur KMU-Förderung in Gang zu setzen. „Die Aufgabe besteht darin, die Entwicklung zu unterstützen und Hemmnisse zu beseitigen, die Unternehmen daran hindern, in Fahrt zu kommen, zu wachsen und neue Arbeitsplätze zu schaffen“, sagte Putin damals und forderte, Vorschläge für befristete Steuervergünstigungen und andere Maßnahmen zur Unterstützung kleiner und mittelständischer Firmen zu erarbeiten.

Im September 2023 schlug der russische Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow vor, sogenannten KMU+, also denjenigen Mittelständlern, die zu groß geworden sind, um die herkömmlichen KMU‑Kriterien mit einem Jahresumsatz von weniger als 10 Mrd. Rubel (100 Mio. Euro) zu erfüllen, unter die Arme zu greifen. Reschetnikow sprach sich dafür aus, die Unternehmen dieser Gruppe stärker finanziell zu fördern, unter anderem mit Hilfe von günstigen Investitionskrediten und Leasingfazilitäten. Kreditgarantien sollten zu ihren Gunsten in einem vereinfachten Verfahren ausgegeben werden. Diese Maßnahmen sollen für die durch solche Unternehmen letzten Endes in Kauf zu nehmenden höheren Steuern, strengeren Kontrollen und vergrößerten Bürokratieaufwand als Ausgleich fungieren.

In seiner Ansprache von Ende Februar 2024 stellte Präsident Putin denjenigen mittelständischen Unternehmen, die sich aus steuertechnischen Gründen in kleinere Einheiten aufgeteilt haben, eine Amnestie in Aussicht. Durch die künstliche „Zerstückelung“ von Firmen waren dem russischen Haushalt 2019 bis 2022 Hunderte Milliarden Rubel an Einnahmen entgangen.

Putin erwähnte auch einen weiteren Vorteil, der KMU alle fünf Jahre gewährt werden sollte: Kreditstundungen von bis zu sechs Monaten. Die Bonitätsbewertung eines Unternehmens, das eine solche Hilfsmaßnahme beansprucht hat, sollte sich dadurch nicht verschlechtern. Der Ankündigung des Präsidenten war im Oktober ein Auftrag von Ministerpräsident Michail Mischustin an das Finanz- und das Wirtschaftsministerium vorausgegangen, entsprechendes Recht von KMU bis zum 1. Juli 2024 gesetzlich zu verankern.
Kritik an Mittelstandspolitik
Viele Mitglieder der russischen Führungselite wie beispielsweise German Gref, Vorstandsvorsitzender der Sberbank, dem führenden Finanzinstitut des Landes, haben wiederholt kritisiert, dass die Entwicklung des Mittelstandes hinter ihrem Potential zurückbleibe. Gref zufolge könnte der BIP-Anteil der Unternehmen dieser Gruppe auf mindestens 40% gesteigert werden, wenn ein größerer Kreis der Firmen auf Darlehen zurückgreifen könnte. Der Regulierungsdschungel bei der Kreditvergabe sei so aufwendig, dass sie nicht automatisiert werden könne, so der Sberbank-Chef. Das mache sie unrentabel und die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen unwirksam.

Die Vorsitzende der Zentralbank, Elwira Nabiullina, erklärte, dass nur wenige mittelständische Unternehmen von den Fördermaßnahmen des Inflationshüters und anderer Behörden Gebrauch gemacht hätten. Dies gelte für Subventionen, Bürgschaften und andere Instrumente. Nach Grefs Einschätzung handle es sich insgesamt um circa 250 Produkte, die unkoordiniert angeboten würden. Die Hürden bei deren Inanspruchnahme seien von den meisten Unternehmen nur schwer zu überwinden.

Von der Zaren- über die Sowjetzeit bis heute
Im zaristischen Russland entstanden insbesondere nach der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 zahlreiche kleinere und mittlere Unternehmen. Unternehmen wie Smirnov und Russo-Balt zeugen von dieser Zeit des Wandels. Smirnov, gegründet von Petr Smirnov in den 1860er Jahren, revolutionierte durch geschicktes Marketing den russischen Alkoholmarkt. Russo-Balt, ursprünglich eine russische Niederlassung des Kölner Eisenbahnwaggon-Unternehmens Van der Zypen & Charlier, wandte sich ab 1908 dem Automobilbau zu. Die Revolution 1917 veränderte die Unternehmenslandschaft Russlands grundlegend. Russo-Balt wurde in „Erste Panzerwagenfabrik“ umbenannt und verlagerte die Produktionsstätte von St. Petersburg nach Fili, unweit des heutigen Büros der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer.

Die sowjetische Wirtschaftspolitik priorisierte staatliche Kontrolle und Planwirtschaft. Viele KMU wurden nationalisiert oder geschlossen. Stattdessen fokussierte sich die Sowjetunion auf die Schaffung von Monostädten, die um ein Groß-Unternehmen oder eine Industrie herum entwickelt wurden. Ein Beispiel dafür ist die tatarische Stadt Nabereschnyje Tschelny, die eng mit dem 1969 gegründeten Lkw-Hersteller KAMAZ verbunden ist. Diese Stadt wuchs rund um das KAMAZ-LKW-Werk von einigen 10.000 Einwohnern auf über eine halbe Million. In der Sowjetunion sollten Monostädte alles vor Ort produzieren, was zu einer Situation führte, in der es anders als in kapitalistischen Ländern kaum KMU-Zulieferer gab.

Der letzte und einzige Sowjet-Präsident Michail Gorbatschow hatte sich mit der Perestroika (deutsch: Wiederaufbau) vorgenommen, die stagnierende sowjetische Wirtschaft zu modernisieren und zu öffnen. Im November 1986 verabschiedete das Parlament der UdSSR, auf Gorbatschows Initiative, das Gesetz „Über die individuelle Arbeitstätigkeit“. Das Gesetz erlaubte es den Bürgern, nach staatlicher Überprüfung marktwirtschaftlich tätig zu werden. Gleichzeitig konnten solche Tätigkeiten nur „in der Freizeit vom Hauptberuf“ ausgeübt werden.

Ab 1988 wurde das Handlungsfeld für die Genossenschaften erweitert und Genossenschaften bekamen das Recht, sich an allen nicht verbotenen Aktivitäten zu beteiligen, einschließlich des Bankenwesens. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur TASS waren 1987 in der Sowjetunion 13,900 Genossenschaften registriert, 1990 waren es bereits eine Viertelmillion.

Auch bezüglich der Privatisierung des Staatseigentums hatte Gorbatschow große Pläne. So wollte er beispielsweise ein Programm zur Umwandlung staatlicher Unternehmen in Aktiengesellschaften anstoßen, dabei setzte er jedoch auf keine komplette Privatisierung des Staatseigentums. Der tatarische Autobauer KAMAZ beispielsweise wurde zu 49% in den freien Verkauf gebracht. Die Mehrheit der Anteile blieb bei der KAMAZ-Gewerkschaft (38%) und dem autonomen Sowjet der Tataren (13%).

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzten die Reform-Kräfte um Präsident Jelzin, unterstützt von westlichen Wirtschaftsexperten wie den Harvard-Professoren Jeffrey Sachs und Andreij Shleicher, auf eine sogenannte „Schock-Therapie“: um die Marktwirtschaft in Russland unumkehrbar einzuführen, wurde möglichst viel möglichst schnell privatisiert. Durch ein Dekret von Jelzin wurden zum 2. Januar 1992 für 80 Prozent der Produktionsgüter und für 90 Prozent der Konsumgüter die Preise freigegeben. Laut der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) stiegen die Preise aufgrund der Liberalisierung in einigen Tagen um 250% und bis Jahresende 1992 um 1800%. Um das Staatseigentum möglichst schnell zu privatisieren und die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, entschieden sich die Reformer für ein System der Gutscheinprivatisierung (engl: „Voucher privatization“). Zwischen 1992 und 1994 wurden durch das Gutscheinprogramm 15000 Firmen privatisiert. Laut einem Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) aus dem Jahr 1999 beteiligten sich über 95% der Russen an der Gutscheinprivatisierung. Da viele Russen unter der Hyperinflation litten und Geld brauchten, verkauften sie Ihre Anteile unter dem eigentlichen Wert. Eine Gruppe von vernetzten und gewieften Geschäftsleuten nutzten die Situation und kaufte die mehrheitlichen Anteile ehemaliger Staatsbetriebe weit unter dem Marktwerk. Eine neue Klasse von mega-reichen Russen, auch mit politischem Einfluss, entstand: die sogenannten Oligarchen der 1990er Jahre.

Vorschläge für weitere KMU-Förderung
Kleine und mittlere Unternehmen passten sich in der Regel schneller an das sich rasch verändernde Geschäftsumfeld an. Dies sei gerade in Zeiten von Wirtschaftssanktionen vorteilhaft, sagt etwa Olga Panina von der Finanzuniversität der russischen Regierung. Dank ihrer größeren Flexibilität und Risikobereitschaft füllten KMU entstehende Marktlücken aktiv, was die russische Wirtschafts-landschaft zugunsten des Mittelstandes verändere, so die Chefanalytikerin des Moskauer Finanz-dienstleisters Finam Olga Belenkaja. Konkret sind laut Alexej Chischnjak von der Regionalstelle Moskau des Wirtschaftsverbands Delowaja Rossija Nischen auf dem Markt für Kleidung, Schuhe oder auch Software frei geworden.

Die staatlichen Infrastrukturen zur KMU‑Förderung verbesserten sich, so Chischnjak. Als wirkungsvoll bezeichnet er unter anderem Finanzhilfen in maximaler Höhe von 500.000 Rubel (5065 Euro) für Unternehmensgründer im Alter bis 25 Jahre, vergünstigte KMU-Kredite im Rahmen des Programms 1764 sowie branchenbezogene Förderungen für Agrarunternehmen, Softwareentwickler und Beherbergungsbetriebe.
Jungunternehmen können sich zu Förder- und Geschäftsmöglichkeiten in spezialisierten Anlaufstellen beraten lassen, die seit 2021 in allen Gebietskörperschaften Russlands mit Ausnahme von Moskau ihre Pforten geöffnet haben. Seit zwei Jahren können sich interessierte Unternehmer zudem auf dem Onlineportal MSP.RF nicht nur über die verfügbaren Förderprogramme informieren, sondern auch Finanzierungen gleich bei mehreren Banken beantragen.

Aufstrebende Mittelständler sind häufig in denjenigen Wirtschaftssektoren anzutreffen, in denen vor 2022 westliche Unternehmen tätig waren, deren russische Mitbewerber vom Marktrückzug ihrer Konkurrenten profitieren. Viele dieser Wirtschaftsbereiche werden zugleich von der russischen Regierung als prioritär eingestuft. Dazu gehören das verarbeitende Gewerbe, Engineering- und IT‑Dienstleistungen sowie Binnentourismus. Unternehmen aus diesen Branchen können grundsätzlich mit großzügigerer staatlicher Unterstützung rechnen.

Vergleich mit Deutschland
Fast alle (99,6%) Unternehmen in Deutschland zählen zu den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Laut Schätzungen von Eurostat, dem Statistikamt der EU, waren 2022 in Deutschland rund 57% der Beschäftigten in KMU tätig, während der EU-Durchschnitt bei fast zwei Dritteln lag. Nur knapp die Hälfte (rund 47%) der Wertschöpfung entfiel in Deutschland auf die KMU; im EU-weiten Durchschnitt lag der KMU-Anteil bei rund 52%. Mit durchschnittlich 6,8 Mitarbeitern wiesen die KMU in Deutschland 2022 die meisten Beschäftigten unter allen EU-Staaten auf. Der Schnitt in der EU liegt bei 3,5. Jedoch ist die KMU-Dichte in Deutschland geringer als in den Nachbarländern und im EU-Durchschnitt. Während in der Bundesrepublik rund 3 KMU je 100.000 Einwohner zu finden waren, lag der EU-Durchschnitt bei 5.4. Im Nachbarland Tschechien sind es sogar 10,3 pro 100.000 Einwohner.
In Russland tragen KMU nur 21% zur Wertschöpfung bei, weniger als die Hälfte des deutschen Wertes. Seit Jahren bemüht sich die russische Regierung, den Anteil der KMU an der Wertschöpfung zu erhöhen, bis jetzt jedoch mit mäßigen Ergebnissen. Durch das „Nationale Projekt“ mit dem Titel „kleine und mittlere Unternehmen und die Förderung des individuellen Unternehmertums“ sollte der Anteil von KMU am BIP bis zum Jahr 2030 auf 40% steigen, wurde später jedoch auf 32,5% angepasst. Russlands Wirtschaftsstruktur, noch immer geprägt vom Erbe des Sowjetkommunismus mit seinen Großbetrieben und Monostädten, erschwert den Aufstieg von KMU.

Quellen: Izvestia, Föderaler Steuerdienst 1, 2, Russ. Regierung 1, 2, 3, Kremlin, Vedomosti 1, 2, Kommersant, RBC, Ministerium für Wirtschaftsentwicklung, MSP RF, TASS, bpb 1, 2, IMF, explaininghistory