Fokusanalyse

Russisch-indische Wirtschaftsbeziehungen

Indien, seit 2023 das bevölkerungsreichste Land der Welt, und Russland sind in den vergangenen zwei Jahren wirtschaftlich näher zusammengerückt. Hatte der Anteil Russlands am Gesamtaußenhandel Indiens 2021 bei 1,2% gelegen, so stieg er 2022 auf 3,1% sowie 2023 auf 5,9%. Auf Indien entfielen im vergangenen Jahr rekordhohe 9% des russischen Außenhandels, nach 2% im Jahr 2021 sowie 4% in 2022. In diesem Jahr könnte der bilaterale Handelsumsatz weiter steigen.

Indiens Premierminister Narendra Modi und Russlands Präsident Wladimir Putin, die sich am 9. Juli in Moskau trafen, hatten sich im Dezember 2021 das Ziel gesetzt, das indisch-russische Handelsvolumen bis 2025 auf 30 Mrd. US-Dollar zu erhöhen, dieses Ziel aber früher erreicht: Der wechselseitige Handel belief sich 2022 bereits auf 37 sowie 2023 auf 65 Mrd. Dollar. In der Gemeinsamen Erklärung zum Abschluss des Modi-Putin-Gipfels heißt es, dass beide Länder bis 2030 jährlich Güter im Wert von über 100 Mrd. US-Dollar austauschen möchten.
Der wichtigste Grund für das bereits erreichte Volumen des russisch-indischen Handels liegt darin, dass Russland laut dem statistischen Dienst des Handels- und Industrieministeriums Indiens seit 2022 im großen Stil Rohstoffe ins demografisch und wirtschaftlich schnell wachsende südasiatische Land liefert:

  • 2023 flossen ca. 600 Mio. Fass russisches Rohöl im Wert von 44,7 Mrd. US-Dollar nach Indien, was auf einen Durchschnittspreis von knapp 75 Dollar je Fass schließen lässt. Dieser liegt um 10% niedriger als der Durchschnittspreis für Öl der Nordsee-Referenzsorte Brent im Jahr 2023, aber um 24% höher als der von der G7 im Dezember 2022 bei 60 Dollar je Fass gedeckelte Preis für russisches Öl. Im Vergleich zu 2022 fuhr Indien eine 2,7-fach höhere Menge Rohöl aus Russland ein. Wertmäßig stiegen die Rohölimporte Indiens aus Russland aber lediglich ums 2,2-fache, weil Öl 2022 weltweit höher notierte und Indien für das aus Russland bezogene Öl trotz Rabatt im Schnitt ca. 93 Dollar je Fass gezahlt hatte.

  • Ölderivate wurden 2023 im Gesamtwert von 4,6 Mrd. US-Dollar von Russland nach Indien exportiert, ums 2,2-fache mehr als im Vorjahr. Den Löwenanteil dieser Lieferungen machte hochviskoses Schweröl aus, das im Wert von 3,6 Mrd. Dollar geliefert wurde, zweimal mehr als 2022. Naphtha wurde im vergangenen Jahr im Wert von 0,5 Mrd. sowie Vakuumgasöl im Wert von 0,3 Mrd. Dollar aus Russland nach Indien exportiert.

  • Der Gesamtwert der von Indien importierten russischen Kohle belief sich 2023 auf 4,1 Mrd. US-Dollar, um 3% weniger als 2022. Die Menge von Kohle, die Indien aus Russland bezog, stieg 2023 aber um 32% auf 23,3 Mio. Tonnen. Im Besonderen wurden im vergangenen Jahr 8,7 Mio. Tonnen Kraftwerkskohle sowie 5,9 Mio. Tonnen Kokskohle im Wert von jeweils 1,2 Mrd. Dollar von Russland nach Indien verschifft. Für seine aus Russland importierte Kraftwerks- sowie Kokskohle zahlte Indien 2023 je Tonne 133 bzw. 207 Dollar, um 30% bzw. 26% weniger als 2022, was im Wesentlichen die Dynamik der weltweiten Kohlepreise widerspiegelt.

  • Diamanten, die noch nicht Gegenstand von EU-Sanktionen waren, wurden 2023 im Wert von 1,1 Mrd. US-Dollar von Russland nach Indien exportiert, um 3% mehr als 2022.

Insgesamt exportierte Russland 2023 Güter im Wert von 60,6 Mrd. US‑Dollar nach Indien, um 78% mehr als 2022 sowie 7,3-mal mehr als 2021. Russlands Importe aus Indien, die hauptsächlich aus Pharmazeutika, Chemie- und Stahlerzeugnissen bestehen, wiesen im betrachteten Zeitraum keine vergleichbare Dynamik auf: Nach 3,3 Mrd. Dollar 2021 waren sie 2022 auf 2,9 Mrd. zurückgegangen, legten aber 2023 auf vier Milliarden zu. 2023 kam es erstmals zur beträchtlichen Einfuhr von Smartphones aus Indien: Diese wurden im Wert von 97 Mio. Dollar importiert. Im Januar–April 2024 zahlten russische Importeure 85 Mrd. Dollar für indische Smartphones.
Ungleichgewicht im russisch-indischen Handel
Das rasante Wachstum der russischen Exporte nach Indien seit 2022 brachte den Handel zwischen beiden Ländern stärker aus dem Gleichgewicht, als dies bis 2021 der Fall gewesen war. Hatte Russlands Überschuss im Handel mit Indien damals fünf Milliarden US-Dollar betragen, so lag er 2023 bei 56,6 Mrd. sowie allein in den ersten vier Monaten 2024 bei 20 Mrd. Dollar.
Ein zunehmend unausgeglichener Handel zwischen Russland und Indien hatte vor rund einem Jahr zu einer beispiellosen Anhäufung von indischen Rupien auf den Bankkonten russischer Exporteure geführt, mit denen Indien immer öfter die aus Russland bezogenen Güter bezahlte. Russland kann für seine Importe aus anderen Ländern grundsätzlich nicht in Rupien zahlen, weil die indische Landeswährung im Unterschied zum US-Dollar oder Euro nicht frei konvertierbar ist.

Im Mai berichtete die englischsprachige indische Zeitung Hindustan Times mit Verweis auf anonyme Beamte, dass die russischen Lieferanten ihr Rupien-Problem weitgehend gelöst hätten, indem sie entsprechende Guthaben in Aktien indischer Unternehmen sowie indische Staatsanleihen und Infrastrukturprojekte investiert hätten. Zudem werde ein Teil des Energiehandels mit Russland inzwischen in Dirham, der frei konvertierbaren Währung der Vereinigten Arabischen Emirate, abgewickelt. Im Unterschied zur Verwendung von chinesischen Yuan, wozu es im Handel mit Russland bisweilen auch komme, sei dies aus indischer Sicht unproblematisch.
Investitionen in indische Unternehmen und Projekte seien keine durchgreifende Lösung, geben zahlreiche Experten wie beispielsweise der Investitionsbroker Denis Astafjew zu bedenken. Sie ließen die russischen Exporteure ihre Erlöse zwar in Indien „parken“ und sollten ertragreich sein, weil die indische Wirtschaft rapide wachse. Das Problem der Cash-Repatriierung bleibe aber bestehen. Um es zu mindern, müssten Investitionen in diejenigen indischen Unternehmen priorisiert werden, die nach Russland exportieren, regt der Vorsitzende des Russisch-Asiatischen Geschäftsrates, Maxim Kusnetsow, an.

Russland sollte vor allem darauf hinarbeiten, das Ungleichgewicht in seinem Handel mit Indien zu verringern, indem es mehr Güter dort beschaffe, appelliert etwa der Vorsitzende des Russisch-Asiatischen Industriellen- und Unternehmerverbandes, Witalij Mankewitsch. In erster Linie kämen indische Ölsaaten, Getreide wie Reis, Tee, Kaffee, Obst, Gemüse, Meeresfrüchte und andere Agrarprodukte und Lebensmittel in Frage. Darüber hinaus sollte über die Einfuhr von Lederwaren, Textilien, Kunst- und Baustoffen wie Linoleum sowie Keramik aus Indien nachgedacht werden. Schließlich könnte es sich für Russland lohnen, mehr Arzneimittel, elektrische Geräte und Fahrzeuge aus Indien zu importieren, so Mankewitsch.

Gegenseitige Investitionen
  • Die erste große Investition Indiens in Russland war die 20% Beteiligung von ONGC Videsh, dem internationalen Arm der staatlichen Oil and Natural Gas Corporation, an Sachalin I, einem internationalen Projekt zur Förderung von Erdöl und -gas nordöstlich der russischen Insel Sachalin im Japanischen Meer, die 1995 beschlossen wurde.

  • Im März 2016 verkaufte der staatliche russische Ölkonzern Rosneft 29,9% die Anteile an Taas-Jurjach Neftegasodobytscha, einem Unternehmen zur Förderung von Erdgas, Gaskondensat und Öl aus der Srednebotuobinskoje-Lagerstätte im Westen der Teilrepublik Jakutien in Ostsibirien, an ein aus ONGC Videsh, Oil India, Indian Oil Corporation und Bharat PetroResources bestehendes indisches Konsortium.

  • Seit Oktober 2016 halten dieselben indischen Unternehmen gemeinsam 49,9% an Wankorneft, dem Betreiber des Öl- und Gasfeldes Wankor im Norden Sibiriens, welches ebenfalls mehrheitlich Rosneft gehört.

  • Zeitgleich mit dem Kauf der Wankorneft-Beteiligung durch die Inder einigte sich Rosneft mit Essar Oil, dem Erdöl-Ableger des indischen Multikonzerns Essar Group, auf den Erwerb von 49,13% der Anteile an der zweitgrößten Ölraffinerie Indiens im Bundesstaat Gujarat im westlichen Teil des Landes. Dieses Geschäft wurde im August 2017 abgeschlossen.

  • Russlands staatlicher Kernkraftkonzern Rosatom errichtet seit 2021 Reaktorblöcke 5 und 6 des an der Küste des Indischen Ozeans im äußersten Süden des Landes liegenden Atomkraftwerkes Kudankulam. Zuvor war Rosatom bereits mit dem Bau der ersten vier Blöcke dieses Kernkraftwerkes, des größten in Indien, beauftragt worden.

  • Im Westen des benachbarten Bangladesch ist der russische Atomkonzern zudem für den Bau von zwei Blöcken im ersten dortigen Kernkraftwerk Ruppur zuständig, in den auch einige indische Firmen involviert sind. Nach Rosatom-Angaben soll der erste Meiler schon im Dezember 2024 und der zweite im kommenden Jahr ans Netz gehen. Im April verkündete Premierministerin Hasina Wajed das Interesse von Bangladesch, Rosatom künftig mit dem Bau von zwei weiteren Reaktoren in Ruppur zu beauftragen.

Quellen: Tradestat, Kremlin 1, 2, Hindustan Times, Izvestia, Prime, Russian Council, Rosneft, Interfax, The Daily Star
2024-07-08 11:31