Ende Dezember läuft der Gastransit-Vertrag zwischen Russland und der Ukraine aus. Ohne einen neuen Transitvertrag dürfte es zu einem Stopp zumindest der jahrzehntelangen russischen Gaslieferungen durch die Ukraine nach Europa kommen.
Am Montag bekräftigteder ukrainische Premierminister Denys Schmyhal, dass der Vertrag nicht verlängert werde. An diesem Tag hätte auch die Auktion der Transitkapazitäten im Januar stattfinden sollen. Da es keine gab, könnten Lieferungen nächsten Monat nur noch tageweise gebucht werden. Den Termin für die Versteigerung der Jahreskapazität hatte die Ukraine bereits im Sommer verstreichen lassen. Sein Land sei aber bereit, weiterhin „jedes beliebige Gas, außer russischem“ nach Europa weiterzuleiten, so Schmyhal.
Russland beteuertebis zuletzt seine Bereitschaft, den Transit fortzusetzen. Wie Ende November bekannt wurde, hat der staatliche russische Gaskonzern Gazprom die Route jedoch nicht mehr in seine Planungen für das kommende Jahr aufgenommen.
Der Transitvertrag Der nun auslaufende Vertrag datiert vom 30. Dezember 2019. Damals hatten Gazprom und sein ukrainisches Pendant Naftogaz nur einen Tag vor dem Auslaufen des alten Transitvertrags von 2009 seine Unterzeichnung verkündet. In ihm verpflichtete sich Gazprom, über die Laufzeit von fünf Jahren mindestens 225 Mrd. Kubikmeter Erdgas durch die Ukraine fließen zu lassen. Die Ukraine bezifferte ihre Gesamteinnahmen aus dem Vertrag auf mindestens 7,2 Mrd. Dollar.
Im ersten Vertragsjahr 2020 verpassteGazprom die festgeschriebene Mindestmenge von 60 Mrd. m³ um 4 Mrd. m³, 2021 wurde das ab dem zweiten Vertragsjahr geltende Minimum von 40 Mrd. m³ um 2 Mrd. m³ übererfüllt. 2022 brach das Transitvolumen auf 20 Mrd. ein, 2023 waren es noch knapp 15 Mrd. m³. Insgesamt wird Gazprom im Vertragszeitraum nur rund 150 Mrd. m³ Gas durch die Ukraine nach Westen geliefert haben. Wegen der Mindestabnahmeklausel im Vertrag sollte das keinen Einfluss auf die Transit-Einnahmen der Ukraine haben. Dennoch waren sie Medienberichten zufolge rückläufig. Für 2022 wurden die Transit-Einnahmen auf 1,2 Mrd. Dollar geschätzt, seit 2023 sollen sie bei 800 Mio. Dollar jährlich liegen. Der österreichische Energieexperte Walter Boltz schätzt, dass die Ukraine nach Abzug der Kosten nur 200-300 Mio. Dollar pro Jahr an dem Transit verdient. Für Russland dürfte der finanzielle Schaden größer sein, da es zuletzt rund 6,5 Mrd. Dollar im Jahr mit seinen Gasexporten durch die Ukraine verdiente.
Rückgang der Transitmengen Bis 2021 hatte die EU rund die Hälfte ihres eingeführten Erdgases über Pipelines aus Russland erhalten, wie aus der Übersicht des Schweizer Bundesamts für Energie hervorgeht. Von den insgesamt 157 Mrd. m³ russischem Pipelinegas in jenem Jahr waren fast 40 Mrd. m³ bzw. 28% durch die Ukraine geströmt, belegenDaten der Brüsseler Wirtschafts-Denkfabrik Bruegel. Damit war der Ukraine-Transit die zweitwichtigste russische Route nach Europa, nach der Ostseepipeline Nord Stream mit 60 Mrd. m³ bzw. 42%. An dritter Stelle kam die Yamal-Pipeline, die 31 Mrd. m³ bzw. 22% der russischen Gaslieferungen über Belarus nach Polen und Mitteleuropa brachte. Auf dem letzten Platz kam damals mit 12,6 Mrd. m³ bzw. knapp 9% die Schwarzmeerpipeline TurkStream und deren Fortsetzung durch Bulgarien, Serbien und Ungarn.
Ab 2022 ist das Gesamtvolumen der Pipelinegas-Importe aus Russland in die EU eingebrochen, zunächst auf 67 Mrd. m³ und im Jahr darauf weiter auf 27 Mrd. m³. Seit 2023 gelangt dieses Gas nur noch durch die Ukraine und TurkStream nach Europa. Weil sich die Liefermengen über die Türkei-Route seit 2021 kaum verändert haben, waren die Liefermengen durch beide Routen seit 2023 laut Bruegel in etwa gleich groß. Der Anteil des Ukraine-Transits an den gesamten Gasimporten der EU, einschließlich Flüssigerdgas (LNG), fiellaut Bruegel seit 2021 von 11% auf zuletzt 4% bis 5%.
Abnehmer der Transit-Lieferungen In die EU gelangt das Transit-Gas nur noch über die Slowakei. Bis 2021 gehörten auch Polen und Ungarn zu den größeren Eintrittspunkten. Auf sie entfielen 44 bzw. 65 von insgesamt 409 Terawattstunden (TWh), während die Slowakei 297 TWh empfing. Polen sagte sich 2022 von russischem Gas los, da es nicht wie von Russland verlangt in Rubel bezahlen wollte. Ungarn bezieht weiterhin russisches Gas, allerdings nicht mehr durch die Ukraine, sondern über TurkStream und Bulgarien, wie Außenminister Péter Szijjártó Mitte Dezember bestätigte.
Im vergangenen Jahr gelangten noch 135 TWh russisches Gas durch die Ukraine in die Slowakei. Davon dürfte ein großer Teil nach Österreich geflossen sein, dem größten einzelnen Verbraucher des Transit-Gases. Laut Bruegel hat der Liefervertrag der Russen mit der Slowakei ein Volumen von 67 TWh jährlich, wobei der Gasbedarf des Landes bei nur 46 TWh im Jahr liegt. Der langfristige österreichische Liefervertrag mit Gazprom lief über 62 TWh, bei einem Jahresbedarf von 72 TWh.
Überraschung nach Lieferstopp Im Dezember kündigteder österreichische Energiekonzern OMV den Vertrag, nachdem Gazprom wegen eines Rechtsstreits seine Lieferungen an ihn eingestellt hatte. Obwohl Österreich zuletzt rund 90% seiner Gasimporte aus Russland bezog und davon vermutlich den Großteil über die Ukraine, sieht sich die Regierung wegen der gefüllten Speicher gut für den Winter gerüstet. Es gebe außerdem neben OMV noch andere „Vertragspartner“ von Gazprom, über die auch russisches Gas weiterhin nach Österreich fließt, erklärtedas vom österreichischen Klimaschutzministerium eingerichtete Portal zur Energieversorgung.
Tatsächlich hat Gazprom auch nach seinem angekündigten Lieferstopp an OMV weiterhin die gleichen Mengen bis an die slowakisch-österreichische Grenze geliefert, berichtetder britische Rohstoff-Informationsdienstleister ICIS. Dort habe es ein „westeuropäisches Unternehmen“ übernommen, das einen Liefervertrag mit dem österreichischen Fernleitungsnetzbetreiber GCA habe. Dass die Umstellung so reibungslos gelang, deutet auf eine längerfristige Vorbereitung hin, fasst ICIS den Konsens unter Marktinsidern zusammen. Auch Mitte Dezember warnoch kein Rückgang der Mengen zu verzeichnen.
Dass Gazprom weiter liefert, sei eine „große Überraschung“, gesteht ein Brancheninsider aus Europa gegenüber der Kammer Russland. Etwas Ähnliches könne auch nach dem 1. Januar geschehen, selbst wenn es bis dahin keine neue vertragliche Grundlage für den Gastransit geben sollte. Gazprom habe ein Interesse, weiter nach Europa zu liefern.
Steigende Gaspreise in der EU Politik und Wirtschaft erwarten zumindest für diesen Winter keine Versorgungsprobleme in der EU, wenn das russische Transitgas wegfallen sollte. Es gebe genügend Flüssiggas auf dem Weltmarkt, um die wegfallenden Mengen zu ersetzen, schreibtdie EU-Kommission in einer Folgenabschätzung. Dort ist auch die Rede von einer „vernachlässigbaren“ Wirkung auf die Gaspreise, da die Entwicklung bereits eingepreist sei.
Dass sich das Ende des Ukraine-Transits bereits auf die Gaspreise in Europa auswirkt, meintauch der russische Berichterstatter für Rohstoffpreise CCI. Die Analysten hoben im Dezember ihre Prognose für die Preise 2025 von 329 Dollar pro 1000 m³ auf 422 Dollar an. Im laufenden Jahr kostete das Gas in der EU bisher im Schnitt 375 Dollar pro 1000 m³. Ein weiter Grund für die erwartete Teuerung sei die schnelle Leerung der europäischen Speicher. Ihr Füllstand sank von Mitte Oktober bis Mitte Dezember von durchschnittlich 95% auf 77%.
Energieexperte Walter Boltz erwarteteinen Anstieg der Preise um 20-25%, der für drei bis sechs Monate anhalten werde. Eine Vervielfachung der Preise wie 2022 sei nicht zu befürchten, da es aktuell „sehr viel Gas am Markt“ gebe. Damals waren die europäischen Preise auf bis zu 4000 Dollar pro 1000 m³ gestiegen. Die Bank of America betonte Anfang Dezember, dass bereits das aktuelle europäische Preisniveau von 580 Dollar pro 1000 m³ hoch sei. Im Schnitt der fünf Jahre vor der Pandemie 2020 habe der Preis bei rund 200 Dollar gelegen, in den USA seien es aktuell nur rund 110 Dollar. Wegen des Transit-Stopps hält die US-Großbank einen Anstieg der Preise im kommenden Jahr um fast 40% auf 800 Dollar pro 1000 m³ für möglich. Europäische Industrievertreter warnen daher gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters vor einer beschleunigten Deindustrialisierung und dem Wegzug von Unternehmen.
Alternative Gasquellen Vor allem die Slowakei und die Republik Moldau sehen dem drohenden Lieferstopp weniger gelassen entgegen. Das EU-Nachbarland bezieht pro Jahr rund 2 Mio. m³ russisches Gas über die Ukraine. Am Montag hat sein Parlament einen Ausnahmezustand für 60 Tage erklärt, weil es ein Ende der Gasversorgung fürchtet. Neben der Transit-Frage kommen im Fall Moldau aber auch territoriale und finanzielle Streitigkeiten mit Russland zum Tragen.
Die Slowakei fürchtet vor allem einen finanziellen Schaden, sollte der Transit enden. Diese Woche hat der Hauptabnehmer des russischen Gases, der staatliche Versorger SPP, zusammen mit Unternehmen aus Österreich und Ungarn in einer gemeinsamen Deklaration vor einem Ende des Transits gewarnt. Allein für die Slowakei entstünden dadurch Kosten von 220 Mio. Euro im Jahr. Allein in den vergangenen Tagen hat die Slowakei Gespräche mit der Ukraine, Gazprom und der EU-Kommission über eine Fortsetzung der Lieferungen geführt.
Auf eine mögliche baldige Lösung deute auch der „rege Reiseverkehr“ aus der EU nach Aserbaidschan, meint der Kammer-Insider. Das Transitgas vollständig durch Flüssiggas (LNG) zu ersetzen sei zwar möglich, erfordere jedoch den Bau von zusätzlicher Infrastruktur, so seine Einschätzung. Aserbaidschan gilt als aussichtsreichste kurzfristige Alternative. Russlands Nachbarland am Kaspischen Meer hatim vergangenen Jahr etwa 12 Mrd. m³ Pipelinegas nach Europa exportiert. Weitere 9,5 Mrd. m³ gingen an das Gastransitland Türkei und 2,5 Mrd. m³ an den Nachbarn Georgien. Für eine signifikante Steigerung der Exportmengen sehen die Analysten von Bruegel wenig Chancen, da die Gasproduktion zu langsam steigt. Im vergangenen Jahr belief sich die Gasproduktion auf 48 Mrd. m³, 2022 warenes 46,7 Mrd. Die Steigerung dürfte auch im laufenden Jahr bescheiden sein, von Januar bis November produziertedas Land 45,8 Mrd. m³ Gas.
Um mehr Gas nach Europa liefern zu können, müsste Aserbaidschan also russisches Gas kaufen, um Mengen für den Export nach Europa freizumachen. Diese könnten von EU-Händlern an der russisch-ukrainischen Grenze übernommen werden und somit als „nicht russisches Gas“ durch die Ukraine fließen. Dieses Szenario eines „Gas-Swaps“ sei auch für europäische Unternehmen attraktiv, da das von ihnen bezogene Gas „doppelt anonymisiert“ wäre, erklärt der Insider.
Auch die Türkei positioniert sich als mögliche Russland-Alternative für die Gasversorgung der EU. Über die Schwarzmeerpipeline TurkStream fließen jedes Jahr rund 14 Mrd. m³ aus Russland in die Türkei und weiter nach Südosteuropa. Außerdem besteht mit Blue Stream eine zweite türkisch-russische Gaspipeline mit einer Kapazität von 16 Mrd. m³ pro Jahr. Bisher nutzt die Türkei sie nur zur Selbstversorgung. Mit Europa ist die Türkei über die Trans-Balkan-Pipeline verbunden, deren Kapazität 27 Mrd. m³ pro Jahr beträgt. Im Herbst schlug der türkische Energieminister Alparslan Bayraktar eine Ausweitung der Gaslieferungen über die Türkei nach Europa vor. Als Gasdrehscheibe verfüge die Türkei über Importkapazitäten von 75-80 Mrd. m³ pro Jahr, bei einem Eigenverbrauch von rund 50 Mrd. m³. Bayraktar verwies dabei auf die fünf türkischen LNG-Terminals. Bei Bedarf könnten sie „LNG von vielen verschiedenen Quellen“ in Empfang nehmen und in Gas umwandeln, das dann als „Turkish blend“ über Pipelines nach Europa verkauft werden könnte. In der „türkischen Mischung“ dürfte dann umgewandeltes Flüssiggas aus Ländern wie USA oder Katar enthalten sein, aber auch Pipelinegas. Die Türkei bezieht es nicht nur aus Russland, sondern auch aus Aserbaidschan und dem Iran.