Fokusanalyse

Russisches Zentralbankgeld für die Ukraine?

Am 28. Februar 2022 hatten die Europäische Union, die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und Japan die bei ihnen verwahrten Vermögenswerte der russischen Zentralbank eingefroren. Russland bleibt damit weiterhin Eigentümer der Mittel, hat jedoch keinen Zugriff mehr auf sie.

In den vergangenen Wochen und Monaten mehrten sich im Westen die Stimmen, die eine Entnahme der Mittel zugunsten der Ukraine fordern. Russland droht mit Gegenmaßnahmen, die vor allem westliche Unternehmen im Land treffen würden.

Wie viel wurde eingefroren?
Im März 2022 schätzte der russische Finanzminister Anton Siluanow das Volumen der eingefrorenen Mittel auf rund 300 Mrd. US-Dollar, US-Finanzministerin Janet Yellen gab die Summe Ende Februar mit 285 Mrd. Dollar an. Nach offiziellen Angaben wurden davon „mehr als zwei Drittel“ innerhalb der EU eingefroren, größtenteils in Belgien, dem Sitz des Clearing-Systems Euroclear. Dort sollen 180 Mrd. Euro an russischen Geldern liegen, so eine in Medien häufig zu findende Angabe.
Der Großteil der übrigen russischen Mittel, die eingefroren wurden, verteilt sich auf Großbritannien, Japan und die Schweiz. Auf die USA entfallen rund 5 Mrd. Dollar, jedoch ist ein bedeutender Teil der Gesamtsumme in US-Dollar notiert, wie die New York Times anmerkt. In Deutschland bewegt sich die Summe nach Angabe von Bundesbankpräsident Jens Nagel in einem „kleineren zweistelligen Millionenbereich“.

Die russische Zentralbank macht keine Angaben zu Menge und Struktur ihrer eingefrorenen Reserven. Die letzte Veröffentlichung zum Umfang der im Ausland angelegten Devisenreserven war der Jahresbericht 2021. Ihm zufolge beliefen sich die Reserven Ende 2021 auf 613 Mrd. US-Dollar. Mehr als die Hälfte (51,6%) davon seien in westlichen Ländern angelegt, wobei unter ihnen Deutschland mit 15,7% an erster Stelle stand. Allerdings beziehen sich diese Angaben nur auf den Sitz der Vertragspartner und Wertpapieremittenten, über die das Geld angelegt wurde, wie die Zentralbank erklärt.
EU-Konsens zum Gewinn-Transfer
Laut dem Jahresbericht von Euroclear für 2023 beliefen sich die Gewinne aus den russischen Mitteln auf rund 800 Mio. im Jahr 2022 und 4,4 Mrd. im Jahr 2023. Von den insgesamt 5,2 Mrd. Euro blieben nach der belgischen Steuer rund 3,85 Mrd. Euro Nettogewinn. Bis 2027 rechnet die EU mit weiteren insgesamt 15-20 Mrd. Euro Gewinn nach Steuern, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Innerhalb der EU gebe es einen Konsens, diese Gewinne zumindest teilweise zur Unterstützung der Ukraine zu verwenden, schreibt die Londoner Zeitung Guardian. Ein „rechtlich robuster“ Vorschlag der EU-Kommission könnte bis zum Treffen der Regierungschefs der Mitgliedsländer am Donnerstag dieser Woche (21.3.2024) vorliegen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte sich bereits im Februar dafür stark gemacht, die Gewinne aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten für die Ukraine zu verwenden. „Es könne kein stärkeres Symbol und keine bessere Verwendung für dieses Geld geben, sagte sie.
Amerika für Transfer der gesamten Zentralbankmittel
US-Präsident Joe Biden hat sich noch nicht öffentlich zur Frage der Enteignung der russischen Mittel geäußert. Die Nachrichtenagentur Bloomberg meldete Ende Februar allerdings, dass Biden die vollständige Entnahme der Mittel befürwortet. Das Geld solle dem ukrainischen Staatshaushalt und in Zukunft für den Wiederaufbau eingesetzt werden, beschreibt Bloomberg Bidens Position unter Berufung auf Insider. Fast zeitgleich formulierte US-Finanzministerin Janet Yellen ihren Standpunkt zur Frage der eingefrorenen russischen Vermögenswerte: „Ich bin überzeugt, dass die G7 zusammenarbeiten und die unterschiedlichen Herangehensweisen prüfen sollten, um ihren wirtschaftlichen Wert freizusetzen. Eine davon könnte sein, die Vermögenswerte selbst zu entnehmen, es gibt aber auch andere Ideen, z. B. sie als Sicherheit für die Schuldenaufnahme auf globalen Märkten zu verwenden.“

Bundeskanzler Olaf Scholz formulierte Mitte März bei einem Treffen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Polens Ministerpräsident Donald Tusk seinen Standpunkt, der dem der EU-Kommission entspricht: „Wir werden ,windfall profits‘ aus russischen Vermögenswerten, die in Europa eingefroren sind, nutzen, um den Kauf von Waffen für die Ukraine finanziell zu unterstützen.“ Eine vollständige Enteignung der russischen Mittel lehnen die EU-Schwergewichte Deutschland und Frankreich ab. Die beiden Finanzminister der Länder, Christian Lindner und Bruno Le Maire, sprachen sich beim G20-Treffen Ende Februar stattdessen für die Nutzung nur der Zinsgewinne aus, wie sie die EU vorschlägt. Das sei „ein realistischer, rechtlich sicherer und auch kurzfristig umsetzbarer Schritt“, so Lindner.

Notenbanken und Banken warnen
Kurz zuvor hatte der italienische Notenbankchef Fabio Panetta seine Ablehnung weitergehender Schritte signalisiert. In einem Vortrag mahnte er, ohne explizit Russland zu erwähnen: „Eine Währung als Waffe zu gebrauchen, verringert ihre Attraktivität und ermutigt das Heranwachsen von Alternativen.“ Die Europäische Zentralbank (EZB) warnte Mitte 2023, dass selbst die Pfändung der Zinsgewinne mit Risiken für den Finanzstandort Europa verbunden sei. Es bestehe die „Gefahr, dass die rechtlichen und wirtschaftlichen Grundlagen, auf denen die internationale Rolle des Euros beruht, untergraben werden“, schrieb sie Medienberichten zufolge an die EU. Ende November sprach sich EZB-Vizepräsident Luis de Guindos ausdrücklich gegen die Nutzung der Zinsgewinne aus, die „Implikationen für den Euro als sichere Währung“ haben könnte. „Der Euro ist die zweitwichtigste Währung der Welt, und wir müssen sein langfristiges Ansehen im Blick haben. Ich denke, es gibt andere Wege, den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren“, sagte der Spanier.

Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete zudem über Sorgen in Brüssel, dass eine Entnahme sogar die Zahlungsunfähigkeit von Euroclear nach sich ziehen könnte. Eine Rettung des Finanzinstituts sei wegen der großen Geldströme, die es verwaltet, nicht möglich, sagte ein namentlich nicht genannter hochrangiger EU-Beamter. Die Aussage des britischen Außenminister David Cameron, das russische Geld nicht einfach einzufrieren, sondern für den Wiederaufbau der Ukraine auszugeben, habe „bei den Banken der Londoner Finanzmeile Schockwellen ausgelöst, (…) bis hin zum Schreckgespenst einer neuen globalen Finanzkrise“, schreibt das Handelsblatt.

Gefahr für den Dollar?
Die Sorge vor einem Bedeutungsverlust als Finanzplatz werde auch von „Top-Beamten“ der USA geteilt, schrieb die New York Times kurz vor Weihnachten, ohne Namen zu nennen. Eine Pfändung würde einen Präzedenzfall schaffen, was andere Länder davon abbringen könnte, ihre Gelder der US-Notenbank anzuvertrauen bzw. in US-Dollar zu halten, führt das Blatt aus.

Nicht alle Ökonomen teilen diese Sorgen. So hält der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz es für unwahrscheinlich, dass es zu einer Kapitalflucht anderer Länder kommen würde. In einem Debattenbeitrag von Anfang Januar wies er darauf hin, dass seit dem Einfrieren der russischen Gelder vor zwei Jahren keine Mittel abgeflossen seien. Für die Geldanlage gebe es eben keine sicheren Alternativen zu den USA, Europa oder Japan, erklärte er. Und selbst wenn „andere potenzielle Schurkenstaaten“ ihre Gelder abzögen, dürfte sich der Schaden für die USA in Grenzen halten. Nach Ansicht vieler Ökonomen würden Kapitalzuflüsse aus solchen Ländern ohnehin mehr Kosten verursachen als nutzen, so Stiglitz.

Deutsche Bedenken
Neben dem Euroclear-Standort Belgien soll vor allem Deutschland die Enteignungspläne skeptisch sehen, schreibt z. B. der einflussreiche US-amerikanische Geopolitik-Thinktank Stratfor.

Die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags befassten sich bereits im März 2022 mit dem „Entzug von Geldvermögen ausländischer Staaten als Sanktion“. Während das Einfrieren von staatlichen Geldern als „Gegenmaßnahme“ bzw. „kollektive Selbstverteidigung“ zulässig sei, bestünden im Falle der Enteignung Zweifel, so das Fazit der Ausarbeitung. Ihre Autoren unterschieden von Beginn an streng das Sanktionsregime von Reparationen, die eine „rechtlich verbindliche Klärung der Kriegsschuldfrage“ voraussetzten. Für die Idee einer Enteignung zugunsten von Quasi-Reparationen, etwa in Form von Mitteln für den Wiederaufbau, gebe es in der bisherigen Staatspraxis kaum Beispiele, schließen sie.

Die Hamburger Wochenzeitung „Zeit“ fasste die deutschen Bedenken in ihrer Ausgabe vom 7. März so zusammen: „Man müsse damit rechnen, dass andere Länder mit einer ähnlichen Begründung irgendwann deutsche oder französische Wertgegenstände beschlagnahmten, zum Beispiel um Reparationsforderungen aus dem Zweiten Weltkrieg abzugelten.“ Die Ende vergangenen Jahres abgewählte polnische Regierung hatte im Oktober mehr als 1,3 Bio. Euro Entschädigungen für Weltkriegsschäden von Deutschland gefordert. Die „Zeit“ schreibt im Blick auf deutsche Sorgen weiter: „Auch mögliche Nachteile für den Euro als Anlagewährung müsse man im Blick haben. (…) Ein Insider formuliert es so: Eine atomar bewaffnete und mit der Weltleitwährung Dollar ausgestattete Supermacht wie die Vereinigten Staaten ist auf Regeln eben nicht so sehr angewiesen wie die EU mit ihrer relativ jungen Währung und einem fehlenden politischen Zentrum.“

Hindernis Staatenimmunität
Das gewichtigste rechtliche Hindernis für eine Enteignung ist die Staatenimmunität, urteilte im Sommer 2023 Juliane Kokott, Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof. Der völkerrechtliche Grundsatz bedeute, dass es „keinem Staat und keinem staatlichen Gericht“ zustehe, über andere Staaten zu urteilen, so Kokott. Die russischen Zentralbankgelder könnten nicht ohne eine „Weiterentwicklung des Völkerrechts“ enteignet werden, schließt sie. Würde man nun argumentieren, dass ein „flagranter Völkerrechtsverstoß“ eines Staates zur Verwirkung seiner Immunität führe, entstünde so ein Präzedenzfall mit fraglichen Auswirkungen auf die Stabilität der internationalen Beziehungen. Er könnte „italienische und griechische, vielleicht auch polnische Gerichte weiter zu Enteignungen der deutschen Auslandsschulen und Botschaftsgelände ermutigen, wegen Verbrechen Deutschlands während des 2. Weltkrieges“, schreibt die deutsche Juristin.

Hintergrund ist ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag (IGH), das in Italien erlassene Gerichtsurteile gegen Deutschland aufhob. In den nationalen Verfahren ging es um Wiedergutmachung für Schäden während des Zweiten Weltkriegs. Das IGH stellte u. a. fest, dass nach geltendem Völkergewohnheitsrecht die Schwere der Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht keinen Einfluss auf die Immunität eines Staates habe, erklärt die Spezialistin für internationales Recht Katja Achermann.

Russlands Reaktion
Russland bereitet bereits Klagen gegen die Enteignungsversuche vor, erfuhr Bloomberg Mitte Januar von Insidern. In Moskau rechne man sich gute Chancen vor Gericht aus und rechne damit, dass eine Überweisung der Mittel an die Ukraine für die lange Dauer der Prozesse unmöglich sein werde.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow wird auf der Website des russischen Außenministeriums mit folgender Erklärung zitiert: „Unsere westlichen Kollegen sollten sich ernsthaft überlegen, das Prinzip der Unverletzlichkeit des Eigentums zu verletzten. In Amerika und Europa gab es schon Fälle von Beschlagnahmung des Eigentums russischer Firmen und Privatpersonen. Wie werden spiegelbildlich handeln und jeden einzelnen Fall beurteilen.“

Die Antwort Russlands auf eine Enteignung werde auf jeden Fall „symmetrisch“ ausfallen, sagte auch Finanzminister Anton Siluanow Ende Februar, und westlichen Unternehmen mehr schaden als russischen. Russland habe eine vergleichbare Summe ausländischer Aktiva eingefroren, so Siluanow, ohne ins Detail zu gehen. Zuvor hatte er in diesem Zusammenhang auf Zinsen und Dividenden westlicher Unternehmen verwiesen, die auf russischen Sonderkonten eingefroren sind. Ihre spiegelbildliche Entnahme könnte über eine Steuer auf die Gewinne aus diesen Mitteln erfolgen, schlug der stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrats Nikolaj Schurawljow vor.

Berichte über radikale Pläne
Im Fall der Fälle werde Russland westliche Firmen enteignen, prognostiziert der US-Think Tank Stratfor. Russland habe Zugriff auf Vermögenswerte in Höhe von rund 200 Mrd. Dollar aus Europa und 5 Mrd. Dollar aus den USA, schätzen die Analysten. Diese Assets dürften anschließend innerhalb Russlands verkauft werden und so dem russischen Staatshaushalt zusätzliche Mittel zuführen.

Eine mögliche Reaktion auf die vollständige Entnahme der russischen Devisenreserven skizzierte Ende Januar die staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti. In diesem Fall liefen westliche Länder Gefahr, 288 Mrd. US-Dollar zu verlieren, führt der Artikel aus. Auf diese Summe hätten sich mit Stand von Ende 2022 die Direktinvestitionen (FDI) aus westlichen Ländern in Russland belaufen, schreibt die Agentur unter Verweis auf offizielle Statistiken der Länder. Dem gegenüber stünden eingefrorene russische Reserven in Höhe von 287 Mrd. Dollar.
Der bekannte russische Politologe Georgij Bowt nahm in seiner Kolumne für die Regierungszeitung Rossijskaja gazeta den Gedanken der FDI-Enteignung auf, schränkte jedoch ein: Bei den erwähnten 288 Mrd. Dollar handle es sich hauptsächlich um private Vermögen. Ein großer Teil sei zudem in Zypern und den Niederlanden „geparkt“, gehört also russischen Unternehmen.

Eine Enteignung von Privatunternehmen hatte der einflussreiche Vorsitzende des Rechtsausschusses des Föderationsrats, Andrej Klischas, Anfang 2023 noch ausgeschlossen. Das sei nur bei strafrechtlichen Vergehen der einzelnen Unternehmen möglich. Die russische Antwort auf den Verlust seiner Devisenreserven könnte spiegelbildlich „bis hin zur Einziehung des Eigentums anderer Staaten“ ausfallen, so Klischas damals.
2024-03-18 14:34