Fokusanalyse

Zehn Jahre Privatinsolvenz in Russland: Vom Einzelfall zum Massenphänomen

Hintergrund

Seit Einführung des Privatinsolvenzverfahrens für Bürger im Oktober 2015 hat sich Russland zu einem der Länder mit den höchsten jährlichen Insolvenzzahlen in Europa entwickelt. Laut Daten des föderalen Registers Fedresurs wurden seit 2016 insgesamt 1,7 Mio. Bürger gerichtlich für insolvent erklärt. Die jährlichen Fallzahlen steigen kontinuierlich und erreichten im vergangenen Jahr ein neues Rekordniveau.

Im ersten Jahr nach Einführung, 2016, wurden 19.572 Personen für bankrott erklärt, 2017 bereits 29.824, 2018 dann 43.962 und 2019 knapp 69.000. Die Dynamik beschleunigte sich ab 2020, dem Start der Corona-Pandemie, deutlich: Die Behörden registrierten 119.023 Insolvenzen, beinahe eine Verdopplung gegenüber dem Vorkrisenjahr. In der Folge wuchs die Zahl 2021 auf 192.788, 2022 auf 278.056 und 2023 auf 349.600 Verfahren. Das Jahr 2024 markiert mit 431.864 Insolvenzen den bisherigen Höchststand. Im ersten Halbjahr 2025 wurden bereits 259.810 Fälle gezählt, was auf eine mögliche Gesamtzahl von über 500.000 zum Jahresende schließen lässt.

Die Summe der im Rahmen dieser Verfahren erlassenen Verbindlichkeiten beläuft sich seit Einführung des Gesetzes im Herbst 2015 auf mehr als 4,2 Bio. Rubel, nach aktuellem Umrechnungskurs rund. 50 Mrd. Euro. In 97% aller Fälle beantragen die Schuldner selbst das Verfahren.

Wer in Russland als insolvent gilt

Das russische Privatinsolvenzrecht legt eine klare Schwelle fest: Ein Bürger gilt als insolvent, wenn seine überfälligen Schulden mindestens 500.000 Rubel, rund 5500 Euro, betragen und er diese länger als drei Monate nicht bedient hat. Diese Grenze ist seit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Oktober 2015 unverändert geblieben und bildet die zentrale Voraussetzung für die Eröffnung eines gerichtlichen Insolvenzverfahrens. Wird dieser Schwellenwert überschritten, kann nicht nur der Schuldner selbst, sondern auch der Gläubiger die Insolvenz beantragen. Unterhalb dieser Grenze bleibt das Verfahren freiwillig und muss vom Schuldner initiiert werden.

Die praktische Umsetzung zeigt, dass viele Schuldner keine Rückzahlungspläne anstreben. In den Jahren 2016 bis 2024 wurden insgesamt nur etwa 5000 Restrukturierungspläne genehmigt, gegenüber über 1,7 Mio. vollständigen Insolvenzen.

Die Gesetzgebung sieht darüber hinaus mehrere Auflagen vor: Eine Person, die für insolvent erklärt wurde, darf fünf Jahre lang keine neuen Kredite aufnehmen, ohne ihre Insolvenz offenzulegen, und drei Jahre lang keine Führungsposition in Unternehmen übernehmen.

Die durchschnittliche Schuldensumme pro Verfahren liegt nach Schätzungen von Kommersant und RBC bei 2,3 Mio. Rubel, etwa 26.000 Euro. Rund 70% der Fälle betreffen unbesicherte Konsumentenkredite und Mikrokredite, weitere 15–20% Hypotheken oder Leasingverträge.

Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens werden alle pfändbaren Vermögenswerte liquidiert und der Erlös anteilig an die Gläubiger verteilt. In den meisten Fällen handelt es sich jedoch um Schuldner ohne nennenswertes Eigentum: Laut Schätzungen von der Wirtschaftszeitung RBC verfügen rund 80% der insolventen Bürger über kein verwertbares Vermögen. Entsprechend bleibt der durchschnittliche Rückzahlungsanteil an die Gläubiger gering und liegt bei unter 10% der Forderungssumme.

Deutschland und USA: unterschiedliche Wege aus der Schuldenfalle

Deutschland hat seit 1999 und die USA bereits seit dem 19. Jahrhundert Gesetze zu Privatinsolvenzen. In Deutschland und den USA gibt es keine feste Mindestschuld, entscheidend ist die nachgewiesene Zahlungsunfähigkeit.

Die Zahlen verdeutlichen die Unterschiede: Russland verzeichnete 2024 laut Fedresurs 431.864 Privatinsolvenzen, Deutschland im selben Jahr rund 100.000, die USA etwa 494.000. Im Verhältnis zur Bevölkerung liegt Russland damit deutlich höher.

Reise- oder Berufsverbote existieren in Deutschland und den USA nicht: Die Bewegungsfreiheit bleibt erhalten. In Russland kann das Gericht hingegen während des laufenden Verfahrens eine vorübergehende Ausreisesperre verhängen. Diese Maßnahme entfällt jedoch nach Abschluss der Insolvenz.

Quellen: Kommersant, Vedomosti (beide RU), CRIF (DE)