Mit wachsender Weizenproduktion ist die Russische Föderation zu einer Agrar-Großmacht aufgestiegen. Unter den zehn größten Weizen-Produktionsländern belegt Russland den dritten Platz hinter China und Indien. Für Russland sind die Weizenexporte von wesentlicher Bedeutung für das Erwirtschaften von Devisen und den Ausbau von Beziehungen zu Ländern des globalen Südens. Russland ist auch nach dem Februar 2022 weiterhin der weltweit größte Weizenexporteur. Unter den Bedingungen von Sanktionen westlicher Länder tragen Getreideausfuhren dazu bei, rückgängige Einnahmen aus dem Verkauf von Energieträgern wie Öl und Gas zu kompensieren.
Ein Blick auf die russische Exportstatistik zeigt, dass es im Jahr 2023 nur bei Agrarprodukten einen Zuwachs gab. Die Exporteinnahmen in diesem Sektor stiegen von 41,6 Mrd. US-Dollar auf 43,5 Mrd. US-Dollar. Dies lag vor allem an gestiegenen Ausfuhren von Getreide, in erster Linie von Weizen. In der Saison 2023/24 stiegen die russischen Weizenexporte auf die Rekordhöhe von 55,5 Mio. Tonnen. Für die Marktsaison 2024/25 gehen Agrarexperten von einem Rückgang der Exporte auf 48 Mio. Tonnen aus.
Agraranteil an Exporten mehr als verdoppelt
Insgesamt sind die russischen Weizenexporte jährlich um etwa 9% gewachsen. Der Anteil von Getreide an den russischen Landwirtschaftsexporten liegt inzwischen bei 37%. Noch in den Jahren 2012 bis 2016 machten die gesamten Agrarausfuhren Russlands nur 4% der Exporterlöse aus. 2023 lagen sie bei rund 10%. In der ersten Hälfte des Wirtschaftsjahres 2023/24, das von Juli bis Dezember dauert, wuchsen die russischen Weizenexporte auf 23,4 Mio. Tonnen, ein Anstieg von 28% gegenüber dem entsprechenden Zeitraum des Vorjahres.
Dieser Aufschwung resultiert vor allem aus einer witterungsbedingten Rekordernte im Jahr 2022. In jenem Jahr war die Getreideernte mit 153 Mio. Tonnen höher als je zuvor. Im folgenden Jahr lag sie leicht darunter, doch immer noch auf Rekordniveau.
Nach dem Ende der Sowjetunion wurde die Russische Föderation in wachsendem Maße ein Getreidexporteur. So wuchsen die russischen Getreideexporte von 449.000 Tonnen im Jahr 1994 auf 1,52 Mio. Tonnen im Jahr 1998. In der Saison 2017/18 stiegen die russischen Weizenausfuhren auf die Rekordhöhe von mehr als 41 Mio. Tonnen. Diese Entwicklung ging in erster Linie zu Lasten der Weizenexporte der USA.
Im Jahre 2019 verzeichnete Russland einen Anteil an den weltweiten Weizenausfuhren von 20%. Dabei entfielen allein auf Ägypten zwei Drittel der Ausfuhren. Eine kontinuierlich steigende Belieferung des Weltmarktes durch Russland wurde durch umfangreiche Investitionen in Häfen und Lagerhäuser möglich. Vier aufeinander folgende Rekordernten seit 2014/15 konnten so international vermarktet werden. Bis zum Jahr 2019 wuchs die Lagerkapazität auf etwa 157 Mio. Tonnen.
Günstige klimatische Bedingungen in Russland fördern die Produktion und den Export von Weizen. Russlands landwirtschaftliche Nutzfläche ist mit mehr als 200 Mio. Hektar extrem groß, im Süden des Landes besteht ein erheblicher Teil dieser Fläche aus fruchtbarer Schwarzerde. Zum Vergleich: Deutschland verfügt nur über eine Nutzfläche von 17 Mio. Hektar.
Schwieriges Sowjeterbe
Noch um die Jahrtausendwende war Russland ein Nettoimporteur von Weizen. Das war eine Folge der Sowjetzeit. In den Siebzigerjahren und Achtzigerjahren waren die USA für die Sowjetunion ein wichtiger Getreidelieferant, vor allem von Weizen. Zwischen 1972 und 1979 stammten 60% des sowjetischen Importgetreides aus den Vereinigten Staaten. Die Weizenimporte aus den USA in die Sowjetunion wuchsen von 1,8 Mio. Tonnen im Jahr 1970 auf 28,1 Mio. Tonnen im Jahr 1984. Ein großer Teil dieses Korns wurde als Viehfutter verwendet. Damit sollte der in der Sowjetunion chronische Mangel an Fleisch behoben werden. Diese Importstrategie wurde offiziell mit witterungsbedingten Missernten begründet, hatte ihre Ursache aber nicht zuletzt in der mangelnden Stimulation der Produzenten durch die sowjetische Zentralverwaltungswirtschaft. Ein weiteres Problem waren fehlende Lagerkapazitäten für Getreide.
Mit dem Ende der Sowjetunion sanken die Mengen des aus den USA nach Russland importierten Getreides bis Ende der Neunzigerjahre auf weniger als 500 000 Tonnen.
Der Hauptgrund dafür waren die reduzierten Viehbestände durch den massenhaften Zusammenbruch von Kolchosen und Sowchosen. In der ersten Hälfte der Neunzigerjahre ging der Viehbestand in Russland stärker zurück als in den ersten fünf Jahren der Stalinschen Kollektivierung. So lag der Schweinebestand im Jahr 1996 nur noch bei 59% des Jahres 1990.
Die Agrarimporte aus den USA schrumpften schließlich in den Jahren ab 2014 bis zur Bedeutungslosigkeit. Dies lag vor allem daran, dass die russische Agrarbranche sich erholte. Hinzu kam eine Verschlechterung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Eine Rolle spielte auch das Konzept der „Lebensmittelsicherheit“, das Russlands politische Führung umsetzte. Dieses war darauf gerichtet, eine von äußeren Einflüssen nicht mehr zu störende Selbstversorgung Russlands mit Lebensmitteln zu gewährleisten. Überschüsse sollten devisenbringend exportiert werden.
Starker staatlicher Einfluss auf Getreideexporteure
Der russische Getreideexport ist von Firmen monopolisiert, die unter starkem staatlichen Einfluss stehen. In der ersten Hälfte des Wirtschaftsjahres 2023/24 wickelten die 50 größten Exporteure rund 90% der gesamten Weizenausfuhren ab. Den ersten Platz bei den Getreideexporten nimmt die Firma Grain Gates ein. Ein russischer Autor mit dem Pseudonym Oleg Loginov hat in einem Aufsatz der deutschen Fachzeitschrift „Osteuropa“ Indizien zusammengetragen, die dafür sprechen, dass hinter dem Unternehmen die staatliche VTB-Bank steht.
Der Vorsitzende dieser Bank, Andrej Kostin, hatte bereits 2019 gefordert, es müsse ein „nationaler Champion“ geschaffen werden, der die Getreideexporte bündele. Es ist davon auszugehen, dass Kostin damit nicht nur eine persönliche Wunschvorstellung ausdrückte, sondern die Interessen der russischen Staatsführung.
Wenjamin Kondratjew, der Gouverneur der südrussischen und von Landwirtschaft geprägten Region Krasnodar wandte sich im Dezember gegen ausländische, am Weizenhandel beteiligte Unternehmen. „Ich bin der Meinung, dass ein strategischer Rohstoff zumindest transparent und kontrolliert sein sollte, auch durch den Staat“, sagte der einflussreiche Gouverneur. „Der Weizen als strategische Ressource befindet sich in den Händen ausländischer Unternehmen durch Schattenglieder in einer großen Kette.“
Die gesamte Ausfuhrmenge der drei großen ausländischen Getreidehändler Dreyfus, Cargill und Viterra hatte im Landwirtschaftsjahr 2022/23 bei 7,2 Mio. Tonnen gelegen. Das entsprach 13% der gesamten Exportmenge von rund 55 Mio. Tonnen. Vitera belegte damals Rang 4 der größten russischen Getreideexporteure, Cargill Rang 6 und Louis Dreyfus 11.
Nach dem Rückzug zahlreicher ausländischer Getreidehändler aus Russland weckt die Struktur des Exports nun Erinnerungen an das staatlichen Außenhandelsmonopol der Sowjetunion. Zugleich bleibt der Handel formal in der Hand privater Firmen. Bei den Ausfuhrzöllen zeigt sich der Staat in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend flexibel und berücksichtigt Veränderungen auf den Märkten.
Die starke Stellung staatsnaher Unternehmen im gegenwärtigen russischen Weizenexport wird auch dadurch begünstigt, dass sich seit Beginn des militärischen Konfliktes in der Ukraine multinationale Unternehmen aus dem russischen Getreideexportmarkt zurückzogen. So gab etwa das Getreidehandelsunternehmen Louis Dreyfus, das seit 2016 im russischen Ausfuhrmarkt tätig war, sein Engagement in Russland 2023 ebenso auf wie der Getreidehändler Viterra, ein Tochterunternehmen der Schweizer Glencore-Gruppe, und der US-Rohstoffhändler Cargill.
Zielländer russischen Weizenexports
Seit Februar 2022 lässt sich ein Anstieg der russischen Weizenexporte in Länder beobachten, die gute Beziehungen zu Russland pflegen. Dies gilt vor allem für die nordafrikanischen Länder Algerien, Libyen und Tunesien. Gestiegen sind auch die Weizenexporte in die Türkei, die immer wieder eine Vermittlerrolle für Russland einnimmt, auch bei der Schwarzmeer-Getreide-Initiative, einer inzwischen gescheiterten Vereinbarung über Getreideexporte der Ukraine.
Erhöhte Weizenexporte verzeichnet Russland auch mit China, Brasilien, Saudi-Arabien und Turkmenistan, die alle eine neutrale Haltung im Ukraine-Konflikt einnehmen. Die politische Bedeutung von Agrarexporten für die russische Regierung zeigt sich auch in einer personalpolitischen Entscheidung des Präsidenten. Wladimir Putin beförderte Landwirtschaftsminister Dmitri Patruschew, Sohn des langjährigen Sicherheitsratschefs Nikolai Patruschew, im Mai 2024 zum stellvertretenden Ministerpräsidenten.
Der Getreidehandel gilt in Moskau sowohl als wichtige Einnahmequelle für Devisen wie auch als Mittel zur Verbesserung außenpolitischer Beziehungen vor allem zu Mitgliedern der Staatengruppe BRICS und zu Ländern, die sich dieser Gruppierung annähern. Das gilt auch für den afrikanischen Markt südlich der Sahel-Zone, wo sich Russlands Weizenkunden vor allem in Mali, Burkina Faso und Niger demonstrativ von Frankreich abgewendet haben. So wuchsen in den ersten zehn Monaten des Jahres 2024 die Lieferungen russischen Weizens in afrikanische Länder um 35%. Die größten Steigerungsraten verzeichnen Marokko, wohin sich die Weizenexporte versechsfachten und das bevölkerungsreichste Land Afrikas, Nigeria. Dessen Weizenimporte aus Russland stiegen um mehr als das Dreieinhalbfache.
Dennoch ist nicht erkennbar, dass es Russland gelingt, seine starke Stellung als Weizenexporteur zu nutzen, um die internationale Marktstruktur zu seinen Bedingungen zu verändern. Versuche Moskaus, einen Mindestexportpreis festzulegen, hatten keinen praktischen Erfolg. Auch Bemühungen um die Schaffung einer Getreidebörse des Staatenbundes BRICS zeigen bisher kein Ergebnis. Die wesentliche Ursache liegt darin, dass im internationalen Getreidehandel bei den Kunden der Trend zu Handelsdiversifizierung und Selbstversorgung geht.