Fokusanalyse

Gehälter in Russland: Ist die Rallye schon vorbei?

Analyse

In den vergangenen beiden Jahren haben sich die russischen Reallöhne stärker entwickelt als in den zehn Jahren davor. Mitte 2025 näherten sich die russischen Durchschnittsgehälter der Schallmauer von 100.000 Rubel, womit sie sich seit 2021 nominal beinahe verdoppelt haben. Doch inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass der Gehälter-Boom in Russland nicht nachhaltig ist.

Gehälter-Rallyes 2000–2012 und 2023–2024

Verzehnfachung der Gehälter ab der Jahrtausendwende
2022 hat in Russland die zweite Gehälter-Rallye seit dem Ende der Sowjetunion begonnen. Die erste hatte sich von Beginn des Jahrtausends über rund zwölf Jahre erstreckt. In dieser Zeit haben sich die durchschnittlichen russischen Bruttolöhne, in Dollar gerechnet, mehr als verzehnfacht, von nur 79 Dollar pro Monat im Jahr 2000 auf 935 Dollar im Vorkrisenjahr 2013. Damit entwickelten sich die Löhne ähnlich wie die russische Wirtschaftsleistung, die laut der Statistik der Weltbank von 260 Mrd. Dollar auf 2,3 Bio. Dollar zulegte. Weil diesen Angaben der durchschnittliche Dollarkurs der jeweiligen Jahre zugrunde liegt, spiegelt sich in ihnen auch die Stärke oder Schwäche der russischen Währung wider. Nach konstanten Dollarpreisen des Jahres 2015 hat sich das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut der Weltbank von 2000 bis 2013 auf 1,38 Bio. Dollar beinahe verdoppelt. Diese Betrachtung ermöglicht eine Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung unabhängig von Währungskursschwankungen.
Stagnation nach 2013
Nach 2013 verlangsamte sich mit dem Wachstum der Wirtschaft auch die Lohnentwicklung. Zwar stiegen die nominalen Gehälter bis 2021 noch einmal fast um das Doppelte auf 57.344 Rubel. Allerdings wertete der Rubel im gleichen Zeitraum stärker ab, insbesondere um die Jahreswende 2013/2014. Das sorgte dafür, dass die Kaufkraft der russischen Gehälter 2021 nach damaligem Kurs mit 777 Dollar um 17% unter dem Wert von 2013 lag. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg laut der Weltbank von 2013 bis 2022 in konstanten 2015er-Preisen um nur noch insgesamt 6,5% auf 1,48 Bio. Dollar. Nach aktuellen Dollarkursen hatte sich das russische BIP nach 2014 beinahe halbiert und erreichte erst 2022 mit 2,29 Bio. Dollar wieder das Niveau von 2013.

Ungeachtet dieser Stagnation weist das russische Statistikamt Rosstat mit Ausnahme des Jahres 2015 durchgehend steigende Reallöhne aus, wie wir in unserer Fokusanalyse von April 2024 bereits ausführten. Dabei handelt es sich um die inflationsbereinigte Entwicklung der Durchschnittsgehälter, die von Rosstat berechnet wird. Das kumulative Reallohnwachstum von 2013 bis Ende 2021 belief sich auf 17,8%. Zum Vergleich: In Deutschland sind die durchschnittlichen Bruttolöhne laut dem Statistischen Bundesamt zwischen 2013 und 2021 nominal um 19%, von 3449 auf 4100 Euro, gestiegen, wobei die Reallöhne kumulativ um 8,2% zulegten.

Entwicklung der russischen Gehälter seit 2022

Starker Lohn-Anstieg seit 2022
Ab 2022 nahm die Entwicklung in beiden Ländern einen entgegengesetzten Verlauf. Während die deutschen Reallöhne in den vergangenen drei Jahren um insgesamt 0,9% fielen, stiegen sie in Russland kumulativ um 18% und damit stärker als in den neun Jahren zuvor. Fast das gesamte Wachstum entfiel mit jeweils 7,8% und 9,1% auf 2023 und 2024. In diesen beiden Jahren legte auch die russische Wirtschaftsleistung ungewöhnlich stark zu. Nach festen Preisen von 2015 stieg sie laut Weltbank um insgesamt 8,8% auf 1,61 Bio. Dollar, womit sie das gesamte Plus der Jahre 2013 bis 2022 (6,5%) übertraf. Im Mai 2025 lag der russlandweite Durchschnittslohn laut Rosstat bei 99.422 Rubel im Monat, was aktuell rund 1070 Euro entspricht.

Volumen der Lohnauszahlungen
Von der starken Entwicklung der russischen Gehälter zeugt auch das Volumen der monatlichen Lohnauszahlungen, das von SberIndex, einem Projekt der staatlichen Sberbank, seit 2017 erhoben wird. Demnach belief sich das Volumen im Juni 2025 auf 4,5 Bio. Rubel, umgerechnet gut 54 Mrd. Euro. Im Jahresvergleich bedeutete das einen Anstieg um 27% in Rubel und 33% in Euro, nach dem jeweiligen durchschnittlichen Monatskurs gerechnet. Bis einschließlich Februar 2022 lag das Volumen der Gehaltsauszahlungen in der Regel unter 2,5 Bio. Rubel. Innerhalb von weniger als dreieinhalb Jahren hat es sich also beinahe verdoppelt. Zum Vergleich: Von Mai 2017 bis Mai 2020 stieg das Gehaltsvolumen weit langsamer, von 1,75 Bio. auf 2,21 Bio. Rubel, also um 23%. In Euro stagnierte das Gehaltsvolumen sogar, angesichts eines minimalen Anstiegs von 27,8 Mrd. Euro auf rund 28 Mrd. Euro nach dem jeweiligen Monatskurs gerechnet. Für die Verdoppelung der Auszahlungen seit Erhebung der Daten waren mehr als sechs Jahre nötig, von 1,55 Bio. Rubel im Februar 2017 auf 3,13 Bio. Rubel im Mai 2023.

Entwicklung der Mediangehälter
Noch ein anderer Indikator, den die Statistiker von SberIndex seit 2020 erheben, verdeutlicht, wie rasant sich die russischen Gehälter in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Das Mediangehalt belief sich in Russland im Juni 2025 auf 66.220 Rubel bzw. 731 Euro nach dem durchschnittlichen Juni-Kurs. Das bedeutet, dass die Hälfte der Arbeitnehmer in Russland mehr, die andere Hälfte weniger verdiente. Im Juni 2021 lag das Mediangehalt bei 36.885 Rubel, umgerechnet 421 Euro. Das Wachstum seit 2021 belief sich also auf rund 80% in Rubel und 72% in Euro.
Russische Gehälter international nur Mittelmaß
Trotz des Wachstums der vergangenen Jahre sind die russischen Gehälter im internationalen Vergleich niedrig. Eine Perspektive auf ihre Höhe bietet die in Belgrad ansässige Statistikplattform Numbeo. Sie sammelt insbesondere Daten zu Lebenshaltungskosten weltweit, vergleicht aber auch die Durchschnittsgehälter nach Steuern. Die Zahlen verdanken sich dem „Crowdsourcing“, werden also teilweise von den Nutzern der Plattform in den jeweiligen Ländern erhoben. Demnach lag Russland Mitte August mit einem Netto-Durchschnitt von 675 Euro pro Monat auf Platz 63 unter 128 verglichenen Ländern, unmittelbar hinter der Türkei (692 Euro) und vor Mexiko (641 Euro). Deutschland belegte mit 2913 Euro den 13. Platz.
„Gehälter-Revolution“ erwartet
Die niedrigen Gehälter zählen seit Jahrzehnten zu den Kernproblemen der russischen Wirtschaft. Die „Falle der billigen Arbeitskraft“ behindere die technologische Entwicklung des Landes, stellen Experten immer wieder fest, so z. B. der regierungsnahe Thinktank ZMAKP im Frühjahr 2024, als die Gehälter-Rallye in vollem Gange war. Die Analysten sprachen damals bereits von einer bevorstehenden „Gehälter-Revolution“, weil die russischen Arbeitnehmer nicht mehr bereit seien, für niedrige Löhne zu arbeiten.

Ein Argument dafür leitete der ZMAKP-Chef Dmitrij Beloussow, der Bruder des russischen Verteidigungsministers Andrej Beloussow, von den hohen Gehältern in der russischen Armee ab. Wer 200.000 Rubel und mehr, umgerechnet mehr als 2100 Euro, pro Monat Sold erhalte, werde später nicht mehr auf die „alten Arbeitsplätze“ zurückkehren, bei denen nur rund ein Viertel davon gezahlt werde, so Beloussow.

Ursachen des Gehaltswachstums
Als Hauptgrund für die steigenden Gehälter in Russland gilt das Defizit an Arbeitskräften, das bereits vor 2022 bestand und sich seitdem verschärft hat. Neben der Konkurrenz zum finanziell attraktiven Wehrdienst an der Front trug dazu auch die von der russischen Regierung verfolgte Begrenzung der Arbeitsmigration bei. In der offiziellen Statistik zeigt sich diese Entwicklung auch bei der Arbeitslosenquote. Sie liegt seit Januar 2024 unter 3% und hat seitdem mehrmals neue historische Bestwerte aufgestellt, zuletzt im Mai 2025 mit nur noch 2,2%.
Der Leiter des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, Walerij Fjodorow, sah Ende Juni 2025 Russland auf dem Weg zu einer „Hochlohn-Wirtschaft“. Angesichts der niedrigen Arbeitslosigkeit und einer schrumpfenden Bevölkerung müssten sich die Arbeitgeber mit den hohen Gehältern abfinden, konstatierte er.

Anzeichen für Rallye-Ende

Reallöhne wachsen langsamer
Spätestens seit Anfang 2025 mehren sich jedoch die Anzeichen, dass der rasante Anstieg der russischen Gehälter schon vorbei sein dürfte. Während die Reallöhne 2024 insgesamt 9,1% zulegten, betrug der Zuwachs im Januar 2025 noch 6,5% und im Februar nur 3,2%. Für die ersten fünf Monate des laufenden Jahres weist das Statistikamt ein reales Wachstum der Gehälter um 3,8% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum aus. Daten für den Juni hat Rosstat bis Ende August nicht vorgelegt.

Laut dem Thinktank ZMAKP stagnieren die Reallöhne seit Jahresbeginn, wie die Wirtschaftszeitung Kommersant berichtete. Saisonbereinigt seien sie im 1. Quartal 2025 gegenüber dem 4. Quartal 2024 um 1,1% gesunken und in den beiden Monaten April und Mai zusammen um 1% wieder gewachsen, womit sich für Januar bis Mai praktisch ein Nullwachstum ergibt.

Unternehmen werden vorsichtiger
Bereits 2024 gab es Anzeichen für eine Verlangsamung der Gehälter-Rallye in Russland. Eine Studie des Jobportals HeadHunter ergab, dass im abgelaufenen Jahr weniger Unternehmen die Gehälter ihrer Mitarbeiter angehoben hatten als 2023. Ihr Anteil sank von 68% auf 58%. Zudem haben 6% zu Gehaltskürzungen gegriffen, sechsmal mehr als im Vorjahr (1%). Die Unternehmen stoßen bei den Gehältern inzwischen finanziell an ihre Grenzen, nicht zuletzt wegen der hohen russischen Zinsen und teurer Kredite, vermuteten die Analysten von HeadHunter im vergangenen Dezember.
Prognosen immer schlechter
Die rasche Abkühlung des Gehälter-Wachstums spiegelt sich bisher nicht in den Prognosen des Wirtschaftsministeriums wider. In der aktuellen Fassung seines Wirtschaftsausblicks für die kommenden drei Jahre, die im April erneuert wurde, geht es noch immer von einem Reallohnwachstum 2025 von 6,8% im Basisszenario und 4,7% im „konservativen“ Szenario aus. Ein halbes Jahr zuvor hatte es noch mit Zuwächsen von 7% bzw. 5,3% im pessimistischen Szenario gerechnet. Die Konsensmeinung unter russischen Finanzexperten ist mittlerweile weniger optimistisch. In der Juli-Umfrage der russischen Zentralbank erwarten die Experten für das laufende Jahr ein nominelles Wachstum der Löhne um 12,5%, wobei die Reallöhne der Prognose zufolge um 3% zulegen. Beide Werte haben sich gegenüber der Mai-Umfrage um 0,2 Prozentpunkte verschlechtert.

Unternehmen planen Gehaltskürzungen
Von einem Ende der „Gehälter-Rallye“ sprach explizit das Institut für volkswirtschaftliche Prognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) in seinem Juni-Rundschreiben. Eine Umfrage der RAN unter Unternehmen habe zum ersten Mal seit Juli 2022 einen negativen Saldo bei den Lohnplänen ergeben. Das bedeutet, dass mehr Unternehmen in den kommenden Monaten mit Kürzungen als mit Erhöhungen ihrer Gehälter rechnen. Die Wissenschaftler erklären die Entwicklung mit der Abkühlung der Wirtschaft, für die sie insbesondere die hohen Zinsen in Russland verantwortlich machen. Das zwinge die Unternehmen, die Kosten zu reduzieren, und dürfte auch zu einem Rückgang der Beschäftigung führen, womit laut der Umfrage auch eine Mehrheit der Unternehmen rechnet.

Quellen: Rosstat, Interfax, Rosstat, Kommersant 1, 2, Izvestia, RBC 1, 2, Russ. Zentralbank, INP RAN, SberIndex, TASS (alle RU), Numbeo, Weltbank(beide EN), Stat. Bundesamt 1, 2